Loge am Lago

Warum in Zeiten, wo es keine Geheimtipps mehr gibt, Domaso im Norden des Comer See und das Westufer eine Entdeckung und eine Reise wert sind.

Junge Hunde können sich ja so aufregen. Spitzes, sich zu Heiserkeit und schriller Erschöpfung verausgabendes Kläffen. Keine Ahnung, was die kleinen Kerle in der Dunkelheit rings um das Weingut Casa Rina zweihundert Meter über dem Nordufer des Comer See derart echauffiert. An diesem Abend Ende März ist die Luft noch winterlich herb, gewürzt vom aromatischen Rauch da und dort anheimelnd qualmender Kamine. Drüben, wo sich der See dem Veltliner Tal zuwendet, die gelben Laternen kleiner Ortschaften. Von nachtschwarzen Tannen bestandene Hänge, darüber der schneeig schimmernde Gipfel des mächtigen Legnone, beklemmende Enge.

Am Morgen nach der Ankunft gleißendes Licht, befreiende Weite. Die westlich aus dem See steigende Schräge des zwei Kilometer hohen Bregagno. Sanft streicht die Breva von Süden her über den Lago und lässt das geschuppte Wasser noch vom Morgendunst gedämpft in der Sonne funkeln. Letzte Nebelschwaden verdunsten wattig weiß vor dem noch schattigen Ostufer. Der helle Süden verflüchtigt die Teutonentrübsal. Italianità. Im Gegenlicht die Palmen von Musso, dahinter schemenhaft die kleine kaninchenförmige Erhebung von Bellágio. „Überall ist es erträglich. Doch am erträglichsten im Ausland“ meinte der Vielverreiser Walter Serner in der 115. Erkenntnis seines Lebenskunst Breviers „Letzte Lockerung.“ Meist war er in eigenen, inneren Angelegenheiten unterwegs, also vom Fach. In diesem Ausland hier, zwischen Bergamasker Alpen und Schweiz, ist es ziemlich erträglich.

Von Domaso weht das Krähen eines Hahns herauf. Gackernd trippeln Hühner um die Rustica, kleine Katzen räkeln wohlig in der Sonne. Der Goldfisch lungert eine Runde durch den Gartenteich. Er weiß, dass Katzen auch heute nicht angeln. Schnüffelnd nach Gelegenheiten zum Kläffen streunen die Hunde durch den Garten. Im Nachbarhaus puscht die Oma, mit allerlei Kleinigkeiten beschäftigt, durch den Vormittag. Casa Rina, bäuerliches Idyll über dem Lago.

Noch sind die Äste der Apfelbäume grau. Doch die Wiese grünt, die Natur ist bereit: Primeln, Narzissen, Krokusse und Forsythien veranstalten ihr Frühjahrsfeuerwerk, der Ginster blüht an den Hängen nebenan leuchtend gelb, unten im Ort betören die ersten Magnolienbäume, auch die Mimosen zeigen ihre Pracht. „Einzigartige Südhanglage,“ die vollmundige Beschreibung der Ferienwohnungsagentur stimmt. Das Weingut über Domaso ist ein Logenplatz am Comer See, im Frühjahr zudem ein paar Grad wärmer als der Ort unten am See.

Nebenan sitzt Herr Camata breitbeinig auf den Schindeln seines Häuschens und nestelt am Kupferblech des Schornsteins. Ein gemütlicher Schweizer Ende Fünfzig im karierten Wohlfühlhemd mit erkennbar helvetischem Interesse an gutem Nachtessen und kultiviert gekelterten Rebensäften. Sein Arbeitsleben verbrachte er mit dem einträglichen Entwurf von Motorradhelmen, sein erträglich richtiges Leben begann für und mit Casa Rina, selbstredend im Ausland. ’96 fing er mit dem Wiederaufbau des ’85 verlassenen Gehöfts an. Der Hauswirt schwärmt von Barbera, Crumello, Sassella und Valpolicella Reben und erzählt Geschichten vom 1945 bis ‘65 über uns in den Bergen florierenden italienisch-schweizerischen Zigarettenschmuggel. Ein neben dem harten Brot der Landwirtschaft gern wahrgenommener steuerfreier Minijob. Hinten plätschert ein kleiner Wasserfall durchs Gebüsch, im Garten wacht eine Madonna über Wohl und Wehe des 280-jährigen Gehöfts. In der Woche ein bisschen illegal bis mittelkriminell, Feiertags kompensiert mit dem rituellen Katholizismus des Kirchenbesuchs. So funktioniert die ganze Welt, auch im Ausland, wo es am erträglichsten ist.

Auch im Zeitalter allerorten nachzulesender, sogenannter Geheimtipps ist der Comer See eine Enklave. Diese seltene Qualität verdankt er seiner Lage. Im Osten, Norden und Westen alpin umschlossen, ist er nicht so Auto- und Kurzurlaubskompatibel wie der Lago Maggiore oder das von Deutschen und Österreichern furchtbar heimgesuchte Ostufer des Gardasee. Zur Entdeckung des Comer See braucht es eine An-, keine Durchreise. Ein gestrecktes Gewässer, die Ufer im Norden bäuerlich alpin, auf halber Höhe patiniert mondän, der nach Lecco führende Arm von lombardischem Gewerbe und Fleiß geprägt, der fjordartig gewunden vor der hübschen Seidenstadt Como endende Ausläufer ein verträumt subtropisches Idyll mit prächtigen Gärten, die einen Ausflug lohnen.

Die Straße schlängelt sich zwischen Lago und tremazziner Hügelland das Ufer entlang. “Und jetzt vier Wochen Urlaub in Tremazzo” begeisterte sich Greta Garbo mal im Finale eines Films. Mit der kühlen Greta nach Tremazzo, das Publikum war hin. Villen-, Garten- und Blumenmenschen erleben hier ihr Nirvana. Der alpin umschlossene Comer See genießt mit zwei Metern mehr als doppelt soviel Niederschlag wie der südöstlich gelegene, direkt in die Poebene übergehende Gardasee mit bereits mediterran trockenem Klima. Eine der regenreichsten Regionen Italiens, dennoch sonnig. Der Mensch will ja alles, Treibhaus und Panorama, er möchte Käffer und das Mondäne, Leben und Übersicht gleichzeitig.

So macht der Garten die Villa Carlotta beispielsweise zu einer der berühmtesten Italiens. 1850 schenkt die preußische Prinzessin Albrecht ihrer Tochter Charlotte das Haus anlässlich der Heirat mit dem Erbprinzen Sachsen-Meiningen, dessen Garteninspektor das Grundstück in eine botanische Weltausstellung mit dem effektvollen und entsprechend bewunderten Blütenspektakel der Azaleen und Rhododendren, Kamelien und Rosen, der Myrten, Lorbeer- und Eukalyptusbäume, umgeben von siebzig verschiedenen Nadelhölzern verzaubert.

Nirgendwo ist der Comer See derart prima bacino wie zwischen Menaggio und Lenno. Die wenigen Kilometer des südwestlichen, vollends der Sonne zugewandten Uferabschnitts sind die Riviera des Gewässers. Ein botanischer Garten, aus dessen grüner Pracht betagte Häuser wie die Villa d’ Este in Cernobbio hervorlugen, heute als eines der besten Grand Hotels geschätzt (man nächtigt im günstigsten Doppelzimmer für 350 Euro). Nach Vereinbarung zugänglich sind die Villa del Balbianello, die sich ein Kardinal an der vielleicht schönsten Lage des Comer See in Lenno zwischen die Zypressen stellen ließ, oder die Villa Vigoni in Menaggio.

Bereits im März melden sich die Magnolien mit weißen und rosafarbenen Blüten, die Mimosenbäume leuchten gelb. Die pastellfarbene Häuserfront Bellagios erscheint vom Westufer gesehen unwirklich wie ein Kurort des 19. Jahrhunderts. Sacht nippt der See am Kies, das Wasser gluckst unter den Steinmolen. “Alles ist vornehm und sanft” meinte Marie Henri Beyle alias Stendhal über die Gegend. Auch zwei Jahrhunderte später trifft die Beschreibung der Verhältnisse noch weit gehend zu, jedenfalls vor oder nach der Saison. „Wenn Du nichts als ein Herz und ein Hemd besitzt, so verkaufe dein Hemd und stille dein Herz, reise an den See von Como“ auch diese Schwärmerei Stendhals, die als Fremdenverkehrswerbung usurpierte Literatur missverstanden werden könnte, gilt noch. Die mondäne Gelassenheit, die Aura des Gewässers und die melancholische Stille im Niemandsland der Vorvorsaison – wunderbar. „Verkaufe Dein Hemd, reise an den See von Como!“ Man muss das Hemd ja nicht in Bellagio an der Rezeption des Grandhotel Serbelloni in so genannte „Wellness“ tauschen, wo der Lago vollends splendido ist.

Ich habe mein Hemd beim gemütlichen Herrn Camata, seinem Goldfisch, den räkelnden Katzen, trippelnden Hühnern und vorlauten Hunden in Seelenfrieden getauscht. Die lombardische Rustica, die Loge über dem Lago behagt mir mehr als das kostenpflichtig servile Lächeln livrierter Kellner und Wellness-Profis. Der Lago di Como im Niemandsland der Vorvorsaison. Eine subtropisch grüne, an 320 Tagen jährlich sonnenverwöhnte Verschwendung, prima bacino, splendido und lombardisch rustikal. Ein See für verschiedene Temperamente – das ideale Ausland und sehr erträglich.

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