Luca, Stefano und das krumme Geschäft

Die venezianische Gondel ist Transportmittel, Prestigeobjekt und Touristenschaukel. Vor allem ist sie krumm. So fährt sie seitwärts gleitend geradeaus. Das ist zwar nicht ohne weiteres zu verstehen, im Grunde aber ganz einfach.

Eigentlich müssten die Kanäle der amphibischen, von Wasserstraßen durchzogenen Adria-Metropole als Heimat der venezianischen Gondel der ideale Ort sein, etwas über das merkwürdig gekrümmte Gefährt der Serenissima zu erfahren. Schneller, als der Besucher gucken kann, sieht er sich in ein sacht schwankendes, mit Samt gepolstertes Gefährt komplimentiert, um alsbald zwischen verzückt lächelnden Japanern, „gorgeous“ rufenden Yankees und den ständig digital filmenden Deppen zu sechst für 80 Euro eine dreiviertel Stunde durch die schattigen Häuserschluchten zu treiben. Für eine Bootspartie sind die Gondolieri zu haben, erzählen wollen sie über ihr Gefährt und ihre Arbeit aber nichts.

Immerhin sind nach beharrlichen Fragen bei abends ermattendem Besucherstrom Luca Rizzi und Stefano Galletta zu Auskünften bereit. Wir treffen uns an der südlichen Treppe der hölzernen Accademia-Brücke. Rizzi und Galletta stehen mit Strohhut, blau-weiß gestreifter Marinéra, dem Matrosenhemd, in schwarzer Hose und schwarzen Schuhen am Dorsoduro-Ufer. Man glaubt gern, dass es sich bei dieser Kluft um die traditionelle Kleidung eines Gondoliere handelt.

Dabei wird der Strohhut in der Zunft erst seit dem Zweiten Weltkrieg getragen, das Matrosenhemd seit den siebziger Jahren, als Venedig-Reisen mit Bootspartie üblich wurden und dem Gondoliere mit der Spezialisierung auf den Fremdenverkehr ein regelmäßiges Einkommen boten. Die Hemden waren zunächst rot-weiß, später blau-weiß gestreift. Rizzi hat die Aufgabe, mit dem Fremden zu plaudern, während Galletta mit Adleraugen den Besucherstrom über die Brücke im Blick behält und das Zaudern oder Verweilen eines Passanten als Einstieg in eine beiläufig eingefädelte Kaltakquisition nimmt.

Kiellos plattbödige Konstruktion

„Rudern ist einfach“, meint Rizzi. Anstrengender sei, „jeden Tag 14, 16 Stunden auf den Beinen zu sein und Kunden zu kriegen“. Die vergleichsweise einfache Handhabung ihres schwimmenden Arbeitsplatzes verdanken die Gondolieri Domenico Tramontin. Ende des 19. Jahrhunderts gab Bootsbauer Tramontin der Gondel die charakteristisch asymmetrische und gekrümmte, rechts um 24 Zentimeter gekürzte Form. Die Asymmetrie und mehr Volumen auf der linken Bootsseite gleichen das Gewicht des backbord stehenden Gondoliere aus. Der Gondelrumpf ist so geformt, dass er leer deutlich nach rechts geneigt, mit dem Gondoliere an Bord leicht nach rechts geneigt, mit kommod auf den Bänken sitzenden Passagieren waagerecht schwimmt.

Die Mitte des Schiffs liegt etwa 15 Zentimeter neben der üblichen Mittschiffslinie. Die Konstruktion kündet von einer virtuosen Beherrschung der Netto- und Bruttoschwimmlage. Die gekrümmte Bootsform lässt die Gondel unabhängig von ihrer Beladung geradeaus fahren, wobei sie ständig seitwärts nach links über das Wasser rutscht. Es ist eine kiellos plattbödige Konstruktion mit seitlich gekrümmten, am Übergang zum Gondelboden geknickten Spanten. Die Vorwärtsbewegung des Gondoliere erzeugt vorübergehend einen Gierwinkel von gerade mal vier Grad, was eine geringe Kursabweichung durch das steuerbordseitige Ruder ist.

Die Fèro symbolisiert die sechs Stadtteile

Anhand eines CAD-Programms (Computer Aided Design) beschäftigte sich der italienische Ingenieur Carlo Donatelli eingehend mit der Schwimmlage, den Auftriebsverhältnissen, der bemerkenswerten Manövrierfähigkeit und Kursstabilität des Gefährts. Interessant ist auch die ergonomische Standposition des Gondeliere auf dem leicht abschüssigen Achterdeck des Bootes, die einst Sicht über das früher überdachte Gefährt und Diskretionsabstand zu den Passagieren bot. Nachzulesen in Carlo Donatellis „Monographie La Gondola, una stradordinaria architettura navale“.

Bis zu Tramontins pfiffiger Idee wurde die venezianische Gondel von mindestens zwei Ruderern bewegt. Es wird angenommen, dass der abnehmende Reichtum in der Lagunenmetropole die Rationalisierung erzwang. Ein Gondoliere musste fortan an Land bleiben und sich anderweitig verdingen, eine frühe Maßnahme eiskalten Outplacements. Seitdem wird praktisch jede Gondel allein, „alla venezia“, also von einem hinten links stehenden, in Fahrtrichtung blickenden Gondoliere, bewegt. Die Fèro genannte stählerne Bugzierde der Gondel symbolisiert die sechs Stadtteile und ist neben dem Campanile San Marco längst Wahrzeichen Venedigs. Die Massenträgheit des Gewichts der Bug- und Heckverzierung verzögert Donatelli zufolge das Giermoment bei Geradeausfahrt und vereinfacht die einmal in Gang gesetzte Drehbewegung der Gondel, deren Wasserlinienlänge leer 55 Prozent der Gesamtlänge entspricht, beim Umschiffen von Kanaleinfahrten.

Die üblichen Kitschfallen Venedigs

Interessant ist die Fórcola als Druckpunkt und vielseitig verwendete Führung des Ruders. Ellenbogenförmig aus Kirsch- oder osteuropäischem Walnussholz getischlert, ermöglicht sie entlang ihrer Rundungen und Ausbuchtungen vom Schnellgang über verschiedene Anlegevarianten bis zur Rückwärtsfahrt sieben verschiedene Fahrtzustände und hilft dem Könner bei der routinierten Handhabung des langen Ruders selbst in engen Kanälen. Damit ist die Fórcola vielseitiger als das Getriebe jedes modernen Autos.

Sie wird binnen drei Tagen von den Remeri, den Ruder- und Fórcoletischlern geschnitzt. Drei Spezialisten dieses Handwerks gibt es dafür noch in Venedig. Sie fertigen die Fórcola je nach Größe, der Kniehöhe und Vorlieben der Gondoliere. Einem von ihnen ist mit „Fórcole, a cura di Saverio Pastor“ ein sehenswerter, 136 Seiten starker Bildband gewidmet (siehe Kasten). Längst hat sich die Fórcola vom nüchternen Gebrauchsgegenstand zur kunstgewerblich herausgehobenen Skulptur verselbständigt. Für Reisende mit Sinn für anspruchsvolle Tischlerei ist der Besuch der Werkstatt eine Möglichkeit, die üblichen Kitschfallen Venedigs zu umschiffen und den Aufenthalt in der Stadt mit einem handwerklichen Einblick zu vertiefen.

Verdienst eines Assistenzarztes

Saverio Pastor, der sein Handwerk Ende der siebziger Jahre beim sogenannten Forcolekönig Giuseppe Carli und Ruderspezialisten Gino Fossetta lernte, gründete 2002 den Verein El Fèlze. „Die Gondel ist ein dynamisches System. Es setzt das Wasser, das Gefährt und den Gondoliere voraus. Erst die Fahrt durch das Wasser wandelt ihre Asymmetrie in eine Art von Symmetrie, die Fahrt geradeaus. Man kann eine Gondel nicht ohne weiteres hinter einem anderen Boot herziehen. Sie funktioniert nur mit dem Gondoliere als Antrieb und Steuermann zugleich. Alles hängt miteinander zusammen, so wie die Gondelkultur viele verschiedene Handwerke voraussetzt“, sagt Pastor. Über die Position der unten als Vierkant ausgeführten, im Bootsdeck steckenden Fórcola gibt es verschiedene Ansichten. „Vor einer Weile wurde sie dreißig, vierzig Zentimeter nach vorn gelegt. Da kann man mehr Druck machen und ist wendiger. Mit der hinten sitzenden Forcola fährt man leichter geradeaus“, berichtet Rizzi.

Früher war die Gondel als privates Fortbewegungsmittel in der Stadt so selbstverständlich wie heute das Auto außerhalb Venedigs. Zum gutsituierten venezianischen Haushalt gehörte die Gondola casada nebst Personal zu deren Handhabung, für Botenfahrten, zum Abholen oder Übersetzen der Familienmitglieder oder Gäste. Der in den fünfziger Jahren anschwellende Fremdenverkehr machte das Verkehrsmittel zum Highlight eines Venedig-Besuchs und damit für private Haushalte zu teuer. Er liquidierte und wandelte die Tradition zugleich. Heute verdient ein Gondoliere im Fremdenverkehr mit 80.000 Euro ungefähr so viel wie ein Assistenzarzt oder Unternehmensberater auf halber Höhe seiner Karriereleiter.

Die Fèlze ist verschwunden

Zwar soll es immer noch die eine oder andere Privatgondel geben, die aus sentimentalen Gründen oder Stolz gehalten wird, eher findet man sie jedoch als Exponat in der interessanten Gondelabteilung des Schifffahrtsmuseums Museo Storico Navale (Castello 2148, täglich 8.45 bis 13.30 Uhr geöffnet), wo unter anderem Peggy Guggenheims private Gondel ausgestellt ist.

Von den Kanälen verschwunden und allenfalls auf historischen Gemälden und verblichenen Fotos, mit viel Glück beim Blick in die Hinterhöfe zu entdecken ist die Fèlze, ein leichter hölzerner Aufbau mit einem halbrunden Dach, einer schmalen Tür und kleinen Fenstern, der auf die Gondel gesetzt wurde. Im Sommer spendete die Kabine Schatten, die Lamellen boten Diskretion und ließen auch an heißen Tagen etwas Luft herein. In den nebligen Wintermonaten schützte die Fèlze vor Nässe und Kälte. Der Aufsatz gehörte früher zur Ausstattung jeder Gondel. Im Zeitalter der ausschließlich touristischen Nutzung ist die Fèlze verschwunden. Sie würde den Ausblick sowie den Ein- und Ausstieg erschweren.

Eiche, Walnuss, Kirsche und Mahagoni

Die Fèlze symbolisiert die private Nutzung der Gondel und wäre vergessen, gäbe es die „El Fèlze“-Vereinigung der Künste und Gewerke, die zum Bau der Gondel beitragen, in San Marco 430 (Telefon 0 41/5 20 03 31, www.elfelze.com) nicht. Sie hat sich der Dokumentation und dem Erhalt der Jahrzehnt für Jahrzehnt nivellierten Gondelkultur verschrieben und sich bewusst nach dem bereits obsoleten Zubehör genannt. Das von ihr herausgegebene Faltblatt erklärt die zehn Gewerke von den Squerariòli genannten Bootsbauern über die als Ottonài und Fonditori bezeichneten Schlosser, die Intagiadòri (Kunstschnitzer), Tapessièri (Polsterer), Caleghèri (Schuhmacher), Remèri (Forcola- und Ruder-Tischler), Fravi (Schmiede für die Ferro-Bugverzierung), Indoradòri (Vergolder) bis hin zu den Baretèri (Hutmachern), Sartòri (Schneidern), alles in allem 28 Betriebe. Selbst das Gondelschwarz ist eine lokale Spezialität. Es wird alle zwei Jahre aufgefrischt.

Die Gondel wird in fünf Arbeitsgängen aus sechs verschiedenen Hölzern und 280 Teilen binnen vier Monaten gebaut, wiegt etwa eine halbe Tonne und kostet annähernd 30.000 Euro. Sie ist etwa 10,75 Meter lang und 1,38 bis 1,75 Meter breit. Nach der Kiellegung werden zunächst drei Rippen, im Fachjargon Spanten genannt, errichtet und mit der obersten Planke stabilisiert. Dann werden sämtliche Aussteifungen des Bootskörpers mit etwa 27 Zentimeter Spantabstand von oben in die Gondel geschoben. Wie im Bootsbau üblich sind sie meist aus Eiche, wobei für die Aussteifungen mittschiffs bei der Gondel Walnuss genommen wird. Dann wird der Rohbau gedreht und fertig beplankt. Kirsche eignet sich besonders für Gravuren, Mahagoni für das aufwändig geschnitzte Vordeck, Kastanie für Bug und Heck. Die Squero San Trovaso (Dorsoduro 1097) ist neben der Tramontinschen Gondeltischlerei (Dorsoduro 1542, www.tramontingondole.it) die bekannteste Werft und für Besucher zugänglich.

Leuchtend gelbe Kunststoff-Imitate

2002 gab es in Venedig noch sieben Gondelbauer. Die Werften schließen nach und nach. Es bleibt abzuwarten, ob der lokale Stolz und Sinn für die venezianische Gondel reicht, das einmalige Gefährt, sein Handwerk und seine Kultur in seiner Vielfalt zu erhalten. Die Fèlze ist bereits verschwunden. Am Geld, das der Fremdenverkehr täglich in die Stadt bringt, kann es nicht liegen. Neuerdings schaukeln Imitate aus glasfaserverstärktem Kunststoff in der Lagunenstadt. Sie sind leuchtend gelb und somit auch von strapazierten Tagestouristen als Fälschung zu erkennen.

Sollten Sie mal nach Venedig kommen und den Spießrutenlauf der überall lauernden Gondolieri bis ins Revier vom dicken Rizzi und dünnen Galletta rings um die Accademia-Brücke geschafft haben, können sie bei den beiden ruhig Platz nehmen. Wir hatten ausgemacht, dass wir sie empfehlen, wenn sie etwas über Gondeln erzählen, und Germanen halten bekanntlich ihr Wort. Ob und wie die beiden singen, wissen wir nicht.

→ Artikelbeispiele