Xenos und die Esel

Mit Eseln durch das Taygetosgebirge in Griechenland gehen ist eine schöne und mühsame Sache. Es ist ein interessanter Weg zur eigenen Geduld, auch zum Erkunden des Peloponnes.

Die gefühlte Strecke, die Pitza, Tacia und ich seit Verlassen von Skoutari, eines Dorfes auf dem linken Mittelfinger des Peloponnes gelaufen sind, ist enorm. Gegen Mittag wollten wir den Ort verlassen. Haben wir im Prinzip auch. Doch bereits zwischen den Steinmauern der Vorgärten haben sich die Beiden begeistert über das frische Grün hergemacht. Ab und zu mahne ich geduldig zum Weitergehen und erkläre, das hier wäre eine Wanderung und keine Freßtour. Doch verstehen Esel entweder mein Bemühen um die griechische Sprache nicht, oder die Verständigung zwischen Tier und Mensch ist sowieso eine jahrtausendealte, vom Vierbeiner geschickt gepflegte Illusion. Die Einsicht meiner Weggefährten hält allenfalls ein paar Huftritte. Dann strafft sich der Strick hinter mir und ich höre wieder das Stillstand verheißende Rupf- und Mampfgeräusch.

Nun muß, wer großes vor hat, erstmal Vertrauen schaffen. Das ist an der Börse nicht anders als mit Eseln. Also lasse ich sie fressen. Außerdem stellen die Beiden die Mehrheit unserer Wanderdelegation. Dass sie über hervorragende Menschenkenntnis verfügen, werde ich die nächsten Tage erfahren. Esel haben erstens einen eigenen Willen, zweitens ist er außerordentlich stark, soweit es um den stoischen Ausdruck des Nichtwollens geht. Sie laufen erst, wenn sie klargemacht haben, dass du warten mußt, bis sie bereit sind, ihre Meinung zu ändern. Das kann dauern. Wie diese Bereitschaft herzustellen ist, zählt zu den Geheimnissen der Grautiere. Es gibt keinen Zweifel, dass sich der Mensch deshalb die willenlose Gerätschaft des Automobils ausdachte.

Die Sonne nimmt ihren Lauf, nähert sich der Senke zwi­schen dem Sangiasrücken und Taygetosgebirge, bläut den leicht gekräuselten lakonischen Golf. Eigentlich wollte ich immer schon mal Zeit haben, mir das in aller Ruhe anzuse­hen. Der Ginster blüht, die Schmetterlinge haben Betrieb­sausflug. Die Libellen brummen mindestens so wichtig wie unser Außenminister durch die Weltgeschichte. Die Bienen prüfen das Angebot und die Fliegen sind eh gut drauf. Vor allem da, wo Esel mit Ohren und Schwanz, der moderne Zweibeiner nicht mal mit Armen hinlangt.

Wellig und unten am Wasser noch sanft hebt sich der Peloponnes aus dem Mittelmeer. Ein herrlicher Steingarten mit Oliven be­schattenen Äckern und Wiesen. Dazwischen vom Meer meistens abgewandten Ortschaften. Heimat eines bis heute zurückgezogen lebenden Menschenschlags, wie ihn Patrick Leigh Fermor in seiner Schilderung einer Wanderung durch die Manihalbinsel in den 40er und 50er Jahren in „Travels in the Southern Peloponnese“ beschrieben hat. Einzig Gythion, wo ich vor einigen Tagen den Proviant für die Tour besorgte, macht einen lebhafteren Eindruck.

Pitza und Tacia fressen sich schöne pralle Grasbäuche an. Die Dorfköter kläffen nicht mehr. Das ist schön, muss aber nichts heißen. Hunde gewöhnen sich praktisch an alles. Auch an „Xenos“, den Fremden, der ver­sucht, mit zwei Eseln eine Wanderung durchs Taygetosge­birge zu machen und sich eigentlich noch da aufhält, wo er losgegangen ist. So was bebellt kein griechischer Dorfköter länger, als die arbeitende Bevölkerung des Ameisenhau­fens neben mir benötigt, ein Blatt quer über den Pfad zu schleppen. Ameisen, Käfer. Es braucht Pitza und Tacia, damit ich mir solchen Kinderkram mal wieder ansehe.

Wie man zum Esel kommt

Die braunen Felsen und die grüne Macchia rücken in den satten Farben der Nachmittagssonne vom gegenüber lie­genden Peloponnes Finger näher. Alles sehr schön. Noch heute vormittag hatte ich keinen Plan, wie ich der Tiere überhaupt habhaft werden könne. Tacia rotierte in einem Tempo am Strick um den Olivenbaum, wie ich es von Dec­kenventilatoren aus den Tropen kannte. Ich sah mich bereits mit lädiertem Nasenbein von einem Huftritt nie­dergestreckt auf dem Boden wälzen, die Dorfgemeinschaft und die Esel ratlos drum herum.

Dann zeigt mir Bäuerin Mansothalassitis, wie man zum Esel kommt. Man geht ent­schlossen, ohne jedes Zaudern (das merken Tiere auch wenn sie nicht gucken), hin und ergreift den Strick. So stand erst Tacia, dann Pitza geduldig auf dem Dorfplatz, während ich die strohgepolsterten Sättel zurechtrückte und mein Ge­päck aufs Holzgestell band. Die Ohren wedelten hin und her. Amüsiert, angriffslustig, neugierig, abenteuerlustig? Die beiden sagten nichts. Ich auch nicht. Skeptisch wogten die Köpfe des versammelten Ältestenrats. Er schloß Wetten ab, dass wir drei es nicht über die Dorfgrenze von Skoutari hin­aus schaffen würden. Ob die alten Leute jetzt feixend hinter den Gardinen hocken und amüsiert unser Vorankommen beobachten?

Wahrscheinlich haben wir die Dorfgrenze noch vor uns. Dabei hatte ich es mir zuhause mit dem Fin­ger auf der Karte so schön vorgestellt. Ich leihe irgendwo rings um Gythion zwei Esel. Die beiden tragen mein Ge­päck. Wir bummeln durch die spartanische Ebene, biegen ins Taygetos Gebirge ab und queren den Rücken an einer passablen Stelle nach Kardamili. Immerhin gehen wir ge­gen abend noch ein Stückchen. Zwei Olivenbäume, ein Zelt. Was brauchen Tier und Mensch zum Übernachten mehr? Kalí níchta.

Den nächsten Tag wollen wir weiterziehen. Ach was: ich ziehe Pitza und Tacia. Dabei sieht es bei den rings ums Mittelmeer Geborenen so leicht aus. Sie gehen. Gelassen, wie der mediterrane Mensch das eben macht. Denn er hat das Leben nicht vor sich. Er lebt schon. Ich dagegen ziehe meine Esel über die Straße von Areopolis nach Gythion. Ist der Deutsche nur glücklich, wenn er auch im Urlaub schuften kann?

Dann beschert ein Zufall die Entdeckung, wie bequem es sich hinter statt vor dem Esel geht. Das macht unser phil­hellenisches Stop and Go komfortabel wie bei Hermann Ludwig Heinrich von Pückler-Muskau, dem einen oder anderen Lesenden ud Reisenden vielleicht als Fürst Pückler-Muskau bekannt. Er erkundet im 19. Jahrhundert unter anderem den Peloponnes zu Fuß. Der Esel braucht das Gefühl, er würde entscheiden wo es langgeht. Dann läuft er. Übernimmt der Zweibeiner diese Rolle, bleiben Grautiere stehen und fres­sen.

„He, Xenos! Was machst Du da mit den Eseln?“ ruft es aus dem Olivenhain. Es braucht eine Weile, bis ich das sonnengegerbte, von Arbeit, Alter und manchem Ouzou ge­prägte Gesicht zwischen den Zweigen entdecke. Ghía su, Hallo! Der Esel ist zwar ein schweigsames Tier, stellt dafür al­lerorten Kontakt her, sogar zu den arg konservativen, gegenüber mo­dernen Erscheinungen wie dem Fremdenverkehr abgewandten Bewohnern der Manihalbinsel. Ich be­komme das erste von vielen Angeboten der Reise für „meine“ Esel. Efcharistò, danke. Ich möchte Pitza und Tacia behalten. Denn ich mag meine Esel schon ein bisschen. Sie öffnen Augen, Nase und Ohren für Dinge, die zu sehen, riechen, hören ich vergaß. Cherete, adio!

Wolfsmilchsträucher, Spornblumen, Ginster

Es dauert, bis ich das zahlenfixierte Leistungsdenken ab­streife wie eine unnötige Jacke. Wozu ist es wichtig, ob wir am Tag acht oder 25 Kilometer laufen? Natürlich habe ich Schwierigkeiten, mich aufs Zigeunern einzulassen. Nach und nach nehme ich die Schönheit des großen Stein­gartens wahr, der sich zwischen den Dörfern des Taygetos aus­breitet. Im späten Frühjahr laufen wir um leuchtend gelbe, pilzförmige Wolfsmilchsträucher, queren Felder voll roter Spornblumen und blühendem Ginster. Ich rieche den aromatischen Duft der Tannen, der Kiefern und Zypressen weiter oben, spüre den heißen Wind, den die Thermik manchmal aus den Tälern in die angenehm kühle Brise hinauf schickt.

Das Glück der Kindheit: den Tag dreckig beginnen und ohne Waschzwang eingeferkelt beenden. Nachdem es eine Weile her ist, dass ich die Anarchie genoß, mich nicht waschen zu können, freue ich mich dennoch über eine Quelle mit einem gara­gengroßen Bassin im Schatten stattlicher Kastanienbäume. Man wird älter. Ich klettere ins eiskalte Wasser, lege den Kopf in den Nacken, blinzele unter das leuchtend grüne Laub. Die Gedanken treiben. Tacia steht wie ange­wachsen und blickt zu mir hinüber, die flauschigen Eselsohren aufmerksam nach vorne gerichtet: „Xenos.“ Wenige Schritte dahinter Pitza. Denken Esel eigentlich? Wenn ja: was? Jedenfalls gucken sie mit ihrem Pokerface immer gleich lieb.

Richtig böse sein kann ich ihnen nie. Auch nicht, als Pitza sich mit gekonnter Kopfdrehung aus dem Halfter windet und mit Xenos’ Ledertasche samt Drachmen, Geld, Fotoapparat, Papieren, Paß und Ticket für einen Tag abhaut. Dass es mir gelingt, sie ohne fremde Hilfe und Unglück mit eigenen Händen einzu­fangen, erfüllt mich für Tage mit Stolz. Als meine Begleite­rinnen sich aus unerfindlichen Gründen weigern, mit mir eine daumenbreite Wasserrinne zu queren, bin ich zwar fällig für eine willenlose Gerätschaft wie das Auto, doch wissen die beiden, wie schnell Zweibeiner zur Versöhnung bereit sind.

Nur mit den Ohren verraten sie sich. Mal läßt Pitza sie streitlustig nach hinten über den Kopf ragen, dann stellt Tacia ihre schlanken Löffel senkrecht nach oben – die Öffnung interessiert nach vorn gerichtet. Und während Xe­nos badet, gönnen sich die beiden auch was. Im Dreck wäl­zend verschwinden sie in einer Staubwolke. Die Hufe wir­beln herum. Wie praktisch, dass ich den beiden vorhin das Gepäck abnahm. Esel wälzen sich nämlich auch mit allem drum und dran.

Auch ich in Lakonien

Gegen Abend kocht Xenos Nudeln mit einer archaisch schlichten Soße. Die Verhältnisse müssen paradiesisch sein, damit diese Absage an die gesamte abendländische Kochkunst schmeckt. Et in Lakonia ego. So heißt die süd­lich an Arkadien grenzende Provinz. Einst setzten die Spartaner in diesen Wäldern ihre Jünglinge aus – ohne Esel natürlich – und warteten, wer wann und wie zurück kam. Eine Mutprobe für die gerade zwölfjährigen Jungen. Da­mals gab es hier Bären und Wölfe. Heute Nudeln kochende Germanen.

Auch ich in Lakonien. Browsen, chatten, mailen – alles Mumpitz. Ich logge mich aus einer Welt, in der das Banale in Englisch daherkommt und bei angehobe­ner Flatrate glänzende Aussichten verspricht. Solche Einsichten ver­mitteln Pitza, Tacia und der Tagetos. Dafür schiebe ich den Beiden eine Packung Papadopoulos Kekse Scheibe für Scheibe zwischen die Schneidezähne. Orangen mögen die Beiden auch.

Von Dorf zu Dorf eilt uns die Kunde von den Eseln und dem Fremden voraus. Meine Begleitung wird allerorten so fachmännisch begutachtet, als sei ich mit einer Motoguzzi in ein sizilianisches Nest gekommen. In Panitza klöne ich mit dem Krämer, in Konakia kommt der Dorfpoli­zist, in Kokkina Louria hat der Dorfpope für den Fremden Zeit. Verschlafene Dörfer, von holprigen Wegen durchkreuzt: eine Kirche, eine Kneipe, ein Laden, wo die Frauen in Puschen einkaufen.

„He Xenos! Was machst Du mit den Eseln?“ erkundigt sich Nikos am Ortseingang von Melissa. „Was? Verreisen? Wohin?“ Ich nicke auf den Bergsattel mit dem Kloster Pana­gia Giatrissa über uns. Nikos schüttelt den Kopf. Gestern erst fiel eine Horde schweißgebadeter, krebsroter Holländer (Holländer, in kurzen Hosen) im Laufschritt in die Gaststätte des Dorfes ein, orderte Mineralwasser, guckte nach Ein­nahme des Getränks auf die Uhr, schob die Münzen auf den Blechtisch und verschwand talwärts Richtung Sparta. Mo­derne Freizeitgestaltung. Jetzt kommt einer mit zwei Eseln. „Hör mal, Xenos: es gibt praktische japanische Esel. Dats­uns, Toyotas und Mazdas. Pickups mit Ladefläche. Arbeit­stiere, die parieren. Die müssen bergauf nicht mit Stöckchen und Hella-Rufen angetrieben werden. Und haben ein baßstarkes Radio und eine Steckdose zum Laden des Telefons. Damit bist Du in einer halben Stunde oben am Kloster Panagia Giatrissa. Es ist ganz leicht. Du schwitzt nicht. Du guckst Dir alles an und wirst nicht mal dreckig dabei.“ Nikos hat recht. Die Beine sind schwer, der Hintern wund, der Magen knurrt. Die Füße wollen nur noch aus den Bergstiefeln. Nikos grinst, nimmt mir die Stricke aus der Hand, flüstert Tacia und Pitza etwas ins Ohr. Dann verschwindet der liebenswerte, schwere Mann mit seiner einmachgläserdicken Brille und dem großka­rierten Hemd mit den Beiden im Dunkeln.

Im Lichtkegel einer Glühbirne über Melissas Taverne hockt ein Dutzend Dörfler in der sternenklaren, angenehm kühlen Nacht. Sie haben schon gegessen. Doch finden sich noch Reste. Skeptisch beobachten sie den Fremden, der sich hungrig über Brot, Schafskäse, Wein, Oliven und zwei ge­bratene Eier zu Bratkartoffeln hermacht. Sogar ein Platz zum Schlafen findet sich in Melissa. Ein guter Geist hat Ker­zen angezündet. So finde ich die Kapelle am Ortseingang in der Nacht.

Ich breite die Isomatte zu Füßen der in gold und silbernem Blech ge­prägten Ikonen aus. Die Apostel lä­cheln mild. Das Gemäuer schickt die Sonne des Tages als Wärme in den kleinen Raum. In einem Got­teshaus hat Xenos noch nicht genächtigt. Tacia und Pitza schweigen sich eine Weile vor der Kapelle an, dann be­quemt sich jede unter ihren Olivenbaum.

Nach zwei Tagen bietet der Taygetos einen Blick auf den nachmittags funkelnden Messenischen Golf. Es ist herrlich kühl. Der Forstweg durch die duftenden Tannen erinnert an den Schwarzwald. Da und dort ein Bach. Gegen fünf entdeckt Xenos eine Lichtung und schlägt sein Zelt auf.

In Kardamili endet das Eselsglück des Fremden. Rummel, eine Tankstelle, ein Bus, vor dem sich meine Begleiterinnen arg fürchten. Hupen, Gelächter, Sprüche. Grinsende Lands­leute. Kinder, die den Tieren Wasser bringen. Che­rete, adio. Ich klopfe den schlanken Hals von Tacia, kraule die weichen Ohren und den flauschigen Haar­schopf über Pitzas Stirn. Warum kann ich die beiden nicht mitneh­men? „Hört mal: ich muß wieder zurück. Browsen, mailen, chatten, ihr wißt ja: den ganzen Mumpitz.“ Pitza und Tacia sagen nichts. Diesmal ist Xenos sicher, dass die Beiden ihn nicht verstehen.

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