Zu Fuß nach Arquà Petrarca
Ein Spaziergang durch die Vulkanberge ganze 90 Busminuten vom Flugplatz Marco Polo oder Venedigs Bahnhof Santa Lucia entfernt.
Wenige Kilometer südwestlich von Padua erheben sich seltsam kegelförmige Berge aus der Ebene des Veneto. Meist sind sie von der Stadt zu sehen. Gegen Abend, wenn der 470 Meter hohe Monte Grande beginnt, seinen langen Schatten zu werfen, rücken die Euganeischen Hügel durch den Mittelmeerdunst und Diesigkeit der betriebsamen Region an Padua heran, locken die Flanken der seitlich beschienenen Hänge zu einem Ausflug.
Burgruinen, Gehöfte, Dörfer, Kirchen, Klöster und Villen lugen durch das Grün der bewaldeten Hügel und Weinberge. Terrakottafarbene Tupfer der Schindeln und Gemäuer verheißen ländliche Idylle. Ein überschaubar kleines Mittelgebirge, gut 18 Kilometer in Nord-Südrichtung, sieben Kilometer ohne die östlichen Ausläufer und westlichen Kegel breit. Durchzogen von gut 200 Wegen, von denen zwanzig als Wanderrouten gekennzeichnet sind. Gerade richtig für den überwiegend sitzenden Menschen, der es gewohnt ist, sich befördern zu lassen, den Reiz des Gehens dennoch nicht vergessen hat. Außerdem ist die Erkundung der Euganäischen Hügel der ideale Ausgleich zum Ansturm der Eindrücke und großstädtischen Trubel eines Venedigbesuchs.
Ein Hotelzimmer in einem der berühmten Thermalbäder Abano oder Montegrotto im Osten der Hügel ist noch zu haben. Bereits die alten Römer kurten hier. Später schätzte der Adel der K.u.K. Monarchie die wohltuende und lindernde Wirkung der heißen Quellen. Heute bevölkert der moderne Wellnesstourismus das mineralienhaltige, brühwarme Wasser der Thermalbäder. Man dämmert und döst im Schlamm der Fangopackungen. Ich suche mein Wohlergehen oben, im eigenwilligen Hügelland. Übergangslos ragt es über die Ebene des Veneto, wie eine Inselgruppe aus dem Meer.
Ein Stoffbeutel für Antonio Mazzettis vorzüglichen Wanderführer, Zahnbürste, Rasierer, das Nötigste für einen Spaziergang mit Übernachtung irgendwo in den Hügeln findet sich morgens an der Rezeption. In Teolo, einer Ortschaft auf dem Sattel des Monte Grande, steige ich aus dem Auto, gehe los. Wohin ist beinahe egal. Die Euganäischen Hügel sind überall schön. Verlaufen kann man sich nicht und alle paar Kilometer kommt bereits das nächste Dorf.
Einen Berg wie den Monte Pendice links über mir habe ich vielleicht in einem Fernsehfilm über exotische Länder mal gesehen. Rechts wellt er lieblich und sanft nach Vò hinab. Links hängen Bäume am Fels, klammert sich Gebüsch über dem Abgrund. Nebel und Gegenlicht des Morgens steigern die Dramatik. Diese kleine Sensation lenkt meine Schritte zunächst nach Castelnovo. Außerdem zieht es Germanen in Italien grundsätzlich südwärts.
Vor 30 Millionen Jahren schuf Vulkantätigkeit die Euganäischen Hügel. Abgesehen vom Wasser der Dolomiten, das nach mehrjähriger Wanderung mineralisiert und erhitzt in den Thermalbädern im Osten der Hügel quillt, haben die Berge mit den Alpen wenig zu tun. Der unterschiedliche Abtrag weicher und harter Steinschichten formte das abwechslungsreiche, lieblich bis schroffe Hügelland. Mit dem harten Zoronitgestein wurde halb Venedig gepflastert. Es gelangte auf den einst viel genutzten Wasserstraßen des Veneto zur Lagunenmetropole.
Die Pflanzenwelt der Hügel ist ein Mix alpiner und mediterraner Flora und zeugt vom angenehm gemäßigten Klima. Buchen, Eichen und Kastanien gedeihen hier wie Ginster, Oliven- und Obstbäume. Die Kastanie ist hier so beliebt, dass sie als Gemüse zum „Cappone con marroni“ gereicht wird. Der Castagnaccio aus Kastanienmehl ist eine Kuchenspezialität von Teolo und leider, leider erst etwas für den Nachmittag.
Wer sich auskennt und genau guckt, entdeckt im Gebüsch der Euganäischen Hügel die wildwachsende Jujube. Die Frucht hat die Form einer Olive und ist beinahe kirschrot. Früher, als die Heilmittel noch aus der Natur kamen, wurde Jujube bei Husten genommen. Heute ist sie eine Süßigkeit. Die Einheimischen nennen die kuriose Frucht in ihrer Mundart „Zizola“. In der Abgeschiedenheit der Hügel gedeihen sogar noch einst in der Antike übliche Wildkräuter, die es eigentlich nicht mehr gibt. Die Euganäischen Hügel sind eine Enklave der Vielfalt.
Alle paar Gärten und Gatter echauffieren sich vorlaute Kläffer über den Spaziergänger. Mit einem energischen „Basta“ wird das Gebell abgestellt. Knurrend trollen sich die kleinen Aufpasser. Natürlich drehen sie sich alle paar Schritte noch mal um. Der Fremde wird im Auge behalten. Sicher ist sicher. Köter sind überall, auch ein-zweihundert Meter über der Ebene des Veneto, wo manches anders ist, gleich: Riesenschnauze und beim ersten Widerspruch wird gekniffen.
Ab und zu surrt ein Radler im papageienbunten Pistendreß über die kurvenreichen Sträßchen. Die Hügel sind ein Zweiradeldorado, ihre Steigungen im ersten Gang ohne Weiteres zu wuppen. Nach einer Weile verdampft der Dunst in der erstarkenden Sonne und gibt den Blick auf die ferne Ebene Richtung Adria frei: Zwischen Gewächshäusern und Obstplantagen die Hotelkomplexe von Abano und Montegrotto Terme. Die mehrstöckigen Funktionsbauten überragen beinahe die Kirchen.
Hier oben stellt sich das Wohlergehen von selbst, Schritt für Schritt, ein. Die Sonne hat schon Kraft und die Natur erwacht an diesem sonnigen Märztag. Da und dort liegen in den schattigen Lagen noch Schneereste. Den Nachteil der noch kahl-grauen Bäume erkaufe ich mit dem Vorzug wunderbarer Ruhe, von den vorlauten Vierbeinern in den Ortschaften mal abgesehen. Kaum fröhliche Wandervögel, moderne Wellnessmenschen oder keuchende Leistungssportler, bloß zwitschernde Vögel und jede Menge Frieden.
Ideal sind die Monate März bis Juni, wobei die Wochen nach Ostern den Deutschen Urlauber mit blühendem Unterholz und grünenden Bäumen beglücken. Nach dem endlosen Winter nördlich der Alpen ist der vorgezogene Frühling im Süden wahrlich labend. Im Hochsommer bieten die bewaldeten Höhen zwar Kühle und Schatten. Jedoch wird es im Lauf der Mittagsstunden für ausgiebige Wanderungen auch in den Hügeln zu heiß. Empfehlenswert ist der Herbst, der in Arquà Petrarca, dem bekanntesten Ort der Hügel, am ersten Oktobersonntag mit dem Jujubefest begrüßt wird.
Kleines italienisches Mittelgebirge. Die Jacke ist geöffnet, der Stoffbeutel hängt über der Schulter. Während des Auf und Ab bei Torreglia leert sich die Wasserflasche. An der Schulter des Monte Rua entdecke ich eine Ortschaft wenige Serpentinen unterhalb. Die mächtige Kirche, sie hat selbst von oben gesehen eher das Format eines Doms, läutet. Der Magen ist auch der Meinung, es wäre Zeit für eine Pause. Okay, Galzignano.
Bauern nesteln an ihren Reben. Jedes zweite Gehöft lockt mit Agroturismo, einer Kostprobe naturnah bodenständigen Lebens. Auf die 13 verschiedenen D.O.C. Weine ist die hiesige Winzergemeinschaft besonders stolz. Das Consorzio Vini der Colli Euganei ermittelt alljährlich die dreißig besten Weine der Gegend. 2005 wird die Liste vom Pinello und Serpino des Jahrgangs 2002 der Weingüter la Costa dei Fratelli Faccin geführt. Sie reicht bis zu Spumante und Passito Dessertweinen der Jahrgänge 2002, 2000 und 1999. Seit der Vereinigung Italiens wird in den Euganäischen Hügeln zunehmend Cabernet angebaut. Eine unproblematische Rebsorte, die sich zudem gut mit anderen mischen lässt und hier der gängige Tischwein ist. Nähme der Wanderer all die Gelegenheiten zur Weinprobe wahr, er käme nicht weit. Sogar eine strada del vini führt durch die Euganäischen Hügel. Ich empfehle eine gut gefüllte Geldbörse und einen Kombi mit abstinenter Begleitung. So können mehrere Weingüter abgeklappert werden.
Gut möglich, dass die Spaghetti, die ich in der Via Roma zu einem Glas rotem Cabernet genieße, zu den besten zählen, die ich je um die Gabel wand. Natürlich trägt der Vormittag zu dieser Einschätzung das seine bei. Jedenfalls habe ich noch nie Bigoli gegessen, die dickste Spaghetti-Variante, die es gibt. Sie werden stets frisch aus Weizenmehl, Wasser, Butter, Salz und Eiweiß zubereitet. Die Spätzle der Italiener sind eine Spezialität der Region Padua. Mit Bigoli gewinnen Eltern ihre Kinder für stinklangweilige bis uncoole Waldspaziergänge durch die Euganäischen Hügel. Kleine Menschen mögen immer klare, einfache Sachen: eine Lebensweise, zu der kluge Erwachsene vielleicht eines Tages mal wieder zurückfinden. An Galzignanos Via Roma komme ich bei einem Teller Bigoli mit einer Pilz-Tomatensauce dazu. Ein Kaffee kompensiert die Wirkung des zweiten Gläschens Cabernet. Dann wird es Zeit den bunten Beutel zu schultern und weiterzuziehen.
Nach einer Stunde öffnet sich das Gatter zum barocken Themengarten der Villa Barbarigo. Im schulterhohen Heckenlabyrinth verlaufen sich höchstens kleine Erwachsene und richtige Kinder. Von der angehobenen Rotunde mit umranktem Ruhebänkchen in der Mitte des Labyrinths werden die Bälge im Auge behalten. Sie werden die Euganäischen Hügel zweitens dank dieses Irrgartens, wo man sich so schön austoben kann, mögen.
Nebenan dreht der schwarze Schwan mit rotem Schnabel eine müßige Runde im Bassin des Diana Bads. Ob er Glück und Frieden seines solitären Lebens zu schätzen weiß? Er hat es ja immer. Im Teich der Winde paddeln weiße, gelb beschnabelte Schwäne. Enge Laubengänge spenden im Sommer willkommenen Schatten. Eine Kröte genießt mit dem Kleinen auf der Schulter die ersten kräftigen Sonnenstrahlen. Kleine Frösche werden lang huckepack getragen. Auch auf der Kanincheninsel wird das erste Sonnenbad genommen. Die Tiere fletzen und rekeln im Stroh. Ob es sie stört, dass sie eingesperrt sind? Oder nehmen sie die Einschränkung nicht mehr wahr? Die Kanincheninsel des Themenparks soll an die Grenzen und Endlichkeit des Lebens erinnern. Denn zum Fressen und Faulenzen ist das Gastspiel auf dem Erdenrund auf Dauer zu schade. Mal durch die Euganäischen Hügel spazieren, gucken und nachdenken ist schon besser. Die neuerdings bis zu den Wasserspielen aufwendig wiederhergestellte Anlage aus dem 17. Jahrhundert ist einer der letzten vollständig erhaltenen symbolischen Gärten. Einst landete Zuane Francesco Barbarigo von Venedig im Boot durch die Kanäle kommend am Dianaportal, begrüßte die Tiere und genoss das ländliche Idyll fern der Lagunenmetropole. Die Euganäischen Hügel waren bereits damals eine Enklave. Auch heute sind sie kaum, am ehesten Italienern bekannt.
Am späten Nachmittag ziehe ich durch Olivenbäume und Weinberge nach Arquà Petrarca, jenes mittelalterliche Dorf, in dem Francesco Petrarca, mit Dante Alighieri und Giovanni Boccacio das Dreigestirn der italienischen Literatur, ab 1370 seine letzten Jahre verbrachte. Die wunderbare Kassettendecke der betagten Casa Petrarca hat die Jahrhunderte überstanden, Tisch und Bücherschrank des Arbeitszimmers auch.
Die Schatten werden länger, die Kühle des Abends kriecht in die Jacke. Der bunte Stoffbeutel lehnt an der Bank. Im Garten versteht der Spaziergänger, dass der rastlose Altertumsschwärmer, von immer neuen Projekten, manchem diplomatischem Botengang und fortwährend schriftstellerischer Selbstbespiegelung geplagte Briefschreiber und Lyriker hier, im Süden der Euganäischen Hügel, doch noch etwas Ruhe fand. Selbst von seinen Weinstöcken war der Abstinenzler Petrarca angetan. Natürlich genoss der standfest geschulte Kirchenmann seinen Wein nicht einfach. Er sah ihn als „Gegengift der Wollust und Ermutigung zur Zügellosigkeit.“ Es wird dunkel. Ich schultere den Stoffbeutel und schaue mich nach einer Bleibe um. So viele zwitschernde Vögel und so viel Frieden hatte der Besucher schon lang nicht mehr.
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