Schiffe wie aus Legoland

Die Ostfriesen sind Spezialisten. Sie bauen Schiffe, die angeblich nicht zu bauen sind. Und die andere unter diesen Bedingungen nie zu Wasser bringen könnten.

Es gibt tatsächlich Leute, die sich für allerhand Zeit und Geld in der engen Röhre eines Flugzeugs in die Weltgeschichte pusten lassen, um benebelt von gebrauchter Luft und verschobener Zeit einen echten Schrumpfkopf oder einen von circa zweitausend fürchterlichen Zähnen anzugucken, zu denen es ein Hai unter anderem bringt. Kann man natürlich machen. Nur geht das in Papenburg ja besser. Der Weg zum Heimatmuseum, Hauptkanal rechts 13 ist nicht so langweilig, teuer, gesünder sowieso und Kinder interessieren sich immer für Schrumpfköpfe. Das sind jetzt schon mal vier bärenstarke Argumente gegen die Fidschiinseln und für Papenburg.

Was die Meyer Werft alles kann

Natürlich gibt es auch Gründe für die Fidschis und weniger für Friesland, weshalb bislang in Papenburg 18 stattliche Kreuzfahrtschiffe vom Stapel liefen, die komfortables Reisen durch frische Seeluft, mehrgängige Menüs inklusive, zu den Fidschis ermöglichen. Schon eine Weile macht die seit 1795 existierende Meyer Werft Sachen, die nach landläufiger und sonstiger Expertenmeinung nicht gehen. Mit dem stählernen Raddampfer „Triton“ baut sie im 19. Jahrhundert ihr erstes Passagierschiff. Ein Bootskörper aus Eisen würde augenblicklich untergehen, hieß es, bis die „Triton“ im Papenburger Sielkanal oben blieb. Damit war das recht alte archimedische Prinzip 1874 auch in Ostfriesland bewiesen.

Der Fracht- und Passagierdampfer „Graf Goetzen“ war auch aus Eisen und den verfrachteten die Meyerschen Schiffbauer 1914 zunächst in Einzelteilen nach Afrika, wo die Friesen das Puzzle zu einem stattlichen Pott zusammenfügten und in den Tanganijka-See rutschen ließen. Ging eigentlich auch nicht, aber gut. Die „Graf Goetzen“ wurde später mal neben Katharine Hepburn und Humphrey Bogart als Hauptdarstellerin in „African Queen“ berühmt und ist nach wie vor unterwegs. Made in Germany hält länger, als man denkt, 730 Meter über dem Meer im Süßwasser ohnehin, wo Schiffe langsamer rosten. Schwer zu sagen, wie viele Seeleute nach einem anderen Meyer-Werft­bau, dem legendären Feuerschiff „Elbe 1“ Ausschau hielten. Heute ist es als Museumsschiff in Cuxhaven vertäut.

Einst gab es im Emsnahen Papenburg, dem „südlichsten Seehafen Deutschlands“, 23 Werften. Übrig geblieben ist die Meyersche. Das liegt daran, dass die Schiffbauer nicht einfach immer weiter gemacht haben wie früher, sondern sich als Spezialist für Auto-, LKW- und Passagierfähren, Gastanker, Tiertransporter und Schiffsumbauten auf einen Markt konzentrierten, wo sich den wiesel­flinken fernöstlichen Billigheimern am ehesten Paroli bieten lässt: Die Fertigung einer schwimmenden Kleinstadt für mehrere Tausend Menschen ist eine vielschichtige, Planung und Präzision voraussetzende Aufgabe. Sowas klappt in Germany am besten.

So peilte Bernard Meyer, der sechste Meyer in der respektablen Generationenfolge, Mitte der 80er Jahre den Markt für luxuriös ausgestattete Kreuz­fahrtschiffe an. Kühn war auch der Stapellauf des ersten Exemplars. Noch hatte niemand ein derart großes, gut zweihundert Meter langes Schiff klassisch, seitwärts von der Helling zu Wasser gelassen. Einige allzu nah am anderen Ufer des Spektakels stehende Zuschauer sahen sich plötzlich knie- bis hüfthoch im Wasser stehen, derweil die bedenklich schaukelnde „Homeric“ 1986 im neuen Element die erwartet stabile Schwimmlage fand. Nun sind solche haar­sträubenden Momente zwar das Salz in der Suppe richtigen Schiffbaus, müssen aber nicht sein.

Ein komplexes, aus zahlreichen Gewerken und Teilen zusammengefügtes Schiff lässt sich in einem überdachten Dock effizienter bauen: mit größtmöglicher Automatisierung von Schneid- und Schweißarbeiten, optimierten Warenflüssen und durchdacht kurzen Wegen zwischen Werkbank und Erzeugnis. Denn selten bewegt sich der Friese schneller als ein Koreaner und wer nicht unnötig viel herumläuft, wird eher fertig.

18 Jahre und ebenso viele Kreuzfahrtschiffe später ist die Jos. L. Meyer GmbH bei annähernd dreihundert Metern Länge und mehr als doppeltem Schiffsvolumen angekommen. Die beiden weißen, 60 und 75 Meter über Alleen, Wiesen und Kanäle ragenden Hallen sind kaum zu übersehen. Die Absaugvorrichtung im Dach und die Höhe der zweiten Halle erlaubt sogar die Montage des Schornsteins und damit den Test der Motoren bereits im Dock. So liegen die Neubauten sehr zum Leidwesen der aus halb Nord­deutschland anreisenden Schaulustigen bloß noch einen statt bisher drei Tage am Ausrüstungskai der Werft.

In den vergangenen beiden Jahren warfen jeweils 250.000 Neugierige einen Blick vom panoramaverglasten Besucherzentrum in die beiden Hallen der Traumschiff-Fabrik. Mit dieser Einrichtung macht die Werft gute Stimmung in der Gegend und spricht bereits im Baustadium des nächsten Luxusliners die umworbene deutsche Klientel für die Reedereien an. Wer so einen Pott im Dock gesehen hat, möchte sich eines Tages mal auf See an Bord verwöhnen lassen. Es müssen ja nicht gleich die Fidschis sein. Beim Schnuppertörn zu baltischen Perlen lassen sich der cabrioletartig überdachte Pool, Golfabschlagplatz, Joggingpfad, Fitnessräume, Portofino Restaurant oder jenes 11-stöckige Atrium, durch das die Aufzüge mindestens so cool schweben wie in Downtown-Atlanta, ja auch kennenlernen.

Das Legoprinzip

Während der eineinhalbstündigen Führung durch das Meyersche Besucherzentrum hagelt es ein bisschen viel Zahlen, doch sehen wir das dem knorrigen Papenburger nach, der mit Filmvorführungen, einem Blick in eine Muster­kabine, einem arg schweren Ankerkettenglied zum hochheben und manchem schiffbaulichen Exponat zum gucken, anfassen und staunen routiniert durch die Meyerwelt führt: „Zweitausend Kilometer Kabel, das ist so weit wie von Papenburg nach München und zurück“, werden zum Beispiel in der „Jewel of the Seas“ verlegt. Das können wir uns gerade noch vorstellen. Die 400 Millionen Euro, die so ein Schiff kostet, kaum. Wie man so einen stattlichen Kahn in gerade mal 13 Monaten baut, bleibt auch nach Erläuterung des sogenannten „Legoprinzips“, wonach ein Meyersches Kreuzfahrtschiff aus 70 vorgefertigten Modulen entsteht, sagenhaft. Die nebenan angesiedelte Tochter G+H PreCab, die so einen Luxusliner ruckzuck mit über Tausend komplett bis zur Toilettenpapierhalterung vorgefertigten Kajüten und Suiten einräumt ist einer von vielen Lieferanten, die zu diesem Wunder beitragen. Sind eben doch flinke Burschen, die Friesischen Schiffbauer. Auch wenn der Reisende ihnen das in Papenburgs Innenstadt links oder rechts des Hauptkanals weder auf Anhieb und auch später nicht anmerkt.

Die Überführung des Potts aus dem flachen Binnenland die 42 Kilometer Flußabwärts bis Emden ist eine ganz andere Geschichte, welche die Werft dank Emssperrwerk mit gezielt um 2,70 m angehobenem Wasserstand und Übung von früheren Auslieferungen wuppt. Dann werden sieben, ansonsten im Flussbett liegende Visiere hochgeklappt und der Fluss zwischen den Dörfern Gandersum und Nendorp gestaut. Ansonsten fungiert das 2002 fertig gestellte „Jahrhundertbauwerk“ als Sturmflutschutz der Region, wie längs der Küste, vor allem in Holland üblich. Denn die Nordsee hat zwei Gesichter, ist Freund und Feind der Friesen. Bislang konnten zwischen Papenburg und Emden bis 7,30 m tief gehende Schiffe verkehren, durch das geschlossene Sperrwerk wurden 120 Zentimeter gewonnen. Außerdem sind die Schiffe neuerdings mit dem fortschrittlichen POD-Antrieb ausgerüstet, großen, unter dem Heck in jede Richtung drehbaren Außenbordmotoren. Sie ziehen die jüngsten Neubauten jetzt rückwärts die Ems hinab, was nochmals eine Handbreit Wasser zwischen Flussbett und Ozeanriese schaufelt. So machen die Papenburger Schiffbauer nach wie vor Sachen, die angeblich nicht gehen und andere unter einfacheren Rahmenbedingungen, nämlich direkt an der Küste mit von Haus aus schiffbar tiefem Wasser, nicht hinkriegen. Wenn ein über 60 Meter hoher Koloss majestätisch langsam durch das kurvenreiche Emsfahr­wasser den Weltmeeren entgegen gleitet, wird es still in der ringsum am Ufer versammelten der Menschenmenge. Manchmal finden sich hunderttausend Schaulustige ein.

Was andere können

Dabei ist die Papenburger Werft mit ihren publikumsnahen Erzeugnissen, spektakulären Überführungen und jahrelanger Diskussion um Emsvertiefung und -sperrwerk bloß das bekannteste Beispiel niedersächsischen Spezi­alschiffbaus. Die Emdener Nordseewerke lassen Eisbrecher, Containerschiffe, Saugbagger, außerdem U-Boote und Fregatten vom Stapel. Längs der Weser schweißen, spachteln und lackieren die angesehenen Werften Abeking & Rasmussen sowie Lürssen/Fr. Schweers große Luxusmotor- oder Segelyachten für vermögende Kundschaft, darunter manchen Wüstensohn, Zelebritäten wie Aga Khan oder JetSet-Menschen wie Giovanni Agnelli. Die brauchen keinen Bastelkram, sondern schnelles, ansehnliches und zuverlässiges Wasserspielzeug, wie auch CompuNet Gründer Jost Stollmann, der sich bei A&R einen ansehnlich dunkelblauen 37 Meter Schlitten aus Aluminium schweißen und ziemlich aufgeräumt einrichten ließ. Seit den Zwanzigerjahren ist Abeking & Rasmussen eine weltweit führende Yachtbauadresse.

Gleich drei Fassmers leiten die seit 1850 bestehende Werft in fünfter Generation. Fr. Fassmer baut Vermessungs-, Peil- oder Fischereiforschungschiffe, Seenotret­tungskreuzer und geschlossene Rettungsboote, die sich samt Besatzung oben vom Deck eines havarierten Schiffs schubsen lassen und nach einigen Etagen freiem Fall komplett wieder auftauchen, eine Spezialität, auf die sich auch Ernst Hatecke in Drochtersen versteht. Diese facettenreiche Seite des niedersächsischen Spezialschiffbaus ist zwar so interessant wie Haifischzahn und Schrumpfkopf am Papenburger Hauptkanal rechts 13, jedoch dem breiten Publikum leider nicht zugänglich.

Die erste Reise der Ozeanriesen von den Meyers ans Meer lässt sich übrigens schön mit dem Rad erkunden, sofern es kaum bis gar nicht regnet und der übliche Wind aus nordwestlichen Richtungen nicht allzu viel dagegen hat. Von Papenburg bis Emden geht es rund sechzig Kilometer die Ems entlang, die 24 km bis Leer rechts oder links des Flusses. Ab Leer dann das linke Emsufer bis zum Fischer­hafen Ditzum dem Dollard entgegen. Man kann auf den as­phaltierten Wegen der Fehn oder Internationalen Dollard-Route sehr schöne Radrennen mit eigenen und anderen Kindern machen (wer ist zuerst in … Tipp: Die Mütter hinter der letzten Emskurve lassen, das ist für alle Beteiligen besser) und hoffen, dass man mit dieser Maßnahme abends nach vielleicht halbstündig vorgezogener Bettzeit eher Ruhe vom Fragefeuerwerk und Ideenfestival bekommt, wie es kleine Menschen so tagtäglich abfackeln. Doch kennen Kinder ja die meisten Tricks: Die einen ziehen eiskalt beim Radrennen mit und bleiben abends genauso lange wach, andere täuschen Müdigkeit vor, bloß um abends in Ditzum eine extralange Geschichte aus dem eigenem Kopf, dem mitgebrachten Buch oder eine glaubhafte Erklärung zu hören, warum Ditzum so heißt und das Kaff gegenüber Rorichum. Die Übernachtung in Nachbarorten wie Hatzum, Oldersum und Petkum löst dieses Problem übrigens nicht.

Aus ganz anderem Holz als die in Weltmärkten denkenden Fassmers, Lürssen oder Meyers ist Hinderk Bültjer geschnitzt, der Wert darauf legt, Bootsbauer zu sein und zwar keiner, der sich mit modernen Kunstfasern und -harzen befasst, sondern ein richtiger, mit dem klassischen Naturprodukt. Hier wird nicht über Produktivitätssteigerung, Automatisierung und kurze Wege nachgedacht, sondern der Kiel noch richtig, mit der Queraxt bearbeitet, dem Kant­holz eine sauber aus dem Material gearbeitete Sponung zur Aufnahme der Plankenenden beigebracht und abschlie­ßend das Werg in die Fugen geklopft, wie man es schon immer macht und machen wird, solange die Ditzumer Fischer durch Dollard und Wattenmeer tuckern und Eingeborene wie Bültjer zu jeder Tages- und Nachtzeit „Moin-Moin“ sagen.

Merian Extra: Wasserreich Niedersachsen. Zur Artikelübersicht