Horizontverschiebung

Hier geht es um eine Insel im Bayerischen Meer, glückendes amphibisches Leben und einen 90. Geburtstag. Und um die Segelyacht Dreamtime.

Nach weithin verbreiteter Ansicht gilt ein Boot als entbehrliche Sache. Was nicht zwingend zum alltäglichen Leben erforderlich scheint, steht bei der hinsichtlich Spielzeug vernünftigen weiblichen Fraktion der Familie unter mindestens latentem Rechtfertigungsdruck. Jeder, der sich eine Liebhaberei wie ein Motorrad, einen Oldtimer oder Sportwagen gönnt, kennt diese unschöne Opposition. Bei einem schwimmenden Spielzeug kann sich das zum brüsk formulierten Veto auswachsen: Das Boot oder ich.

Der Münchener Fotograf Ulli Seer wurde durch die elterliche Ferienwohnung auf der Fraueninsel im Chiemsee geprägt. Er ist etwa so lange auf dem Wasser unterwegs, wie er schwimmen kann. Als Fünfjähriger takelte er einen Ruderkahn mit einer Zeltplane als Segel auf, wagte sich in einer lokalen Bootsklasse wie dem sogenannten Chiemsee-Schratz weiter raus und bretterte in den siebziger Jahren als Student mit einer flotten Jolle über die Regattabahnen.

Zur Vermeidung müßiger häuslicher Latenzen entschied Seer sich für eine dem Wassersport zugewandte Frau. Dazu musste er weit, bis ins ferne Australien, reisen. Das ist insofern bemerkenswert, weil das Polyglotte nicht direkt zur Heimatverbundenheit des Bayerischen, soweit wir es verstehen, passt. Auf die zweite und dritte Anomalie kommen wir später zu sprechen.

Anfang der Achtziger war Seer klug genug, seine Begeisterung für das amphibische Leben im und am See zugunsten von Beruf, Frau und drei Kindern mit einem behäbigen Jollenkreuzer zu domestizieren. Zunächst. Das ist nicht selbstverständlich, weil die im Märklinidyll der Gegend gelegene Fraueninsel mehr als ein romantisches Fleckerl Erde ist, wie es die Fremdenverkehrswerbung zutreffend beschreibt. Auch außerhalb des mächtigen Klosters ist das Eiland in seiner herrlichen Jenseitigkeit ein Ort, wo es zur dauerhaften Horizontverschiebung kommen kann. Es ist einfach derart schön dort, dass man bleiben und die Nötigungen festländischer Pflichten vergessen möchte.

In diesem Idyll wird Seer mit einer der schönsten schwimmenden Skulpturen des Bayernmeeres groß, dem Vierzig-Quadratmeter-Schärenkreuzer Argo V. Das flachbordige Geschoss ist etwa 15 Meter lang und richtig schmal. Eines der extremsten Exemplare der ursprünglich schwedischen Bootsklasse, mit seinen Proportionen 1924 vom besessenen Segler, Architekten und Bootskonstrukteur Gustav Estlander auf die Spitze getrieben. Die schwimmende Extravaganz liegt an einer Boje in Sichtweite der elterlichen Ferienwohnung. „Irgendwann einmal werde ich so ein Schiff segeln“, ahnt Seer damals.

Ende der achtziger Jahre scheint es so weit zu sein. Der langjährige Besitzer Erwin Ludescher ist verstorben, und die Angehörigen haben das bedenklich leckende Gefährt vorsichtshalber bergen lassen. Argo steht „aufgebahrt“ in einer Halle, wie Seer zurückblickt. Trügerische Erinnerungen aus verblichener Jugend an den intakten Renner schieben sich tückisch vor die Realität des morschen Gebälks. Gefährlich ist auch der lockende Preis. Die Sicherungen sind bei Seer schon fast draußen, als er Bootsbauer Bepp Heistracher um Rat fragt. „Lass die Finger davon, das ist ein Fass ohne Boden.“ Tja, solche Handwerker gibt es, gradlinige Leute, die dem Liebhaber und Träumer in gebotener Klarheit einschenken und den Horizont wieder geraderücken. Die kostspielige und zeitraubende Sanierung passt nicht in Seers Gesamtlebenskunstwerk als Freiberufler, Familienvater und Segler. Doch der Traum von einem hinreißenden Segelboot für das Bayerische Meer bleibt.

Vernünftiger als Seers Jugendliebe „Argo“

Nach einer Weile tapferen Wartens begegnet Seer im Sommer 1990 am Bodensee einem Dreißig-Quadratmeter-Schärenkreuzer. Er ist kürzer, etwas breiter, insgesamt vernünftiger als Seers Jugendliebe „Argo“. Ein vergleichsweise handliches Gefährt aus klar lackiertem Mahagoni, mit einem weißen Dach in der vergessenen Machart alter mit Leinen bespannter Kajüten. Dazu kleine Bullaugen und ein Fach zur Ablage der Leinen, der sogenannte Mastgarten. Ein Gefährt mit musealem Charme. Seer erliegt ihm augenblicklich. Es heißt „Elch“ und hat den entscheidenden Vorzug, dass er angesichts der Bürde absehbarer Instandsetzungsmaßnahmen und alljährlicher Pflege damit zwar in die Knie gehen, aber nicht absaufen wird. Ein traditionell aus waagerechten Planken über senkrechten Rahmen (Spanten) gebautes Boot ist im Prinzip ein Parallelogramm, dessen Bauteile im Lauf der Jahrzehnte etwas Spiel bekommen. Sie verschieben sich und lassen Wasser herein, bis man mehr mit dem Pumpen als dem Segeln beschäftigt ist.

Es handelt sich um ein Exemplar der angesehenen Werft Abeking & Rasmussen, wo am linken Weserufer in Lemwerder bei Bremen weltweit gefragte Holzboote entstanden. Werftinhaber Henry Rasmussen berichtet in seinen Memoiren „Yachten, Segler und eine Werft“ über das Jahr 1929: „Ein interessanter Bau war auch der Schärenkreuzer ,Pasch‘ meines Freundes Erich F. Laeisz, Hamburg. Da Herr Laeisz ein großer Förderer der Schärenkreuzer war und gern experimentierte, so kamen wir überein, unseren beiderseitigen Freund Alfred Mylne einen 30er zeichnen zu lassen. Um Mylne in die ganze Schärenkreuzer-Materie einzuweihen, sandte ich ihm meine neuesten Risse. Die Konstruktion von Herrn Mylne hatte viel Ähnlichkeit mit meinen Booten, war in vielem aber doch wieder anders, mehr für englische Verhältnisse zugeschnitten mit geradem Mast und größerer Verdrängung.“

Der Schärenkreuzer ist damals Avantgarde

Der Hamburger Reeder Laeisz ist damals in der glücklichen Lage, sich ungebremst von lästigen Sachzwängen wie Budget- und Zeitfragen der Parallelwelt intensiv ausgeübten Segelsports widmen zu können. Er lebt gediegen an der Hamburger Außenalster, seinerzeit ein nobles Suburbia, so gelassen, wie wir es uns heute auf der Fraueninsel denken. Die Horizontverschiebung geht damals so weit, dass Laeisz sich nahezu jährlich eine vielversprechende Rennyacht bauen lässt, sie auf der Alster, auf der Kieler Förde oder zur Abwechslung auch mal in den Staaten vor Long Island segelt. Der Schärenkreuzer ist damals Avantgarde.

Eine Marotte der Familie Laeisz ist es, ihren Schiffen einen mit „P“ beginnenden Namen zu geben. Die besegelten Frachtschiffe der Reederei, wie beispielsweise die „Padua“ (heute „Kruzenshtern“), die „Passat“ (Museumsschiff in Travemünde) oder die „Peking“ (wird derzeit für den Hamburger Hafen hergerichtet) werden daher P-Liner genannt. Der Tatsache, dass sie schnelle Reisen absolvieren, verdanken sie den Namen Flying P-Liner. Diesen Namensgebungsbrauch setzt Laeisz privat mit „Pasch“ fort. Sein nächstes Boot heißt „Pan“.

Die zweite und dritte Anomalie

Seit drei Jahrzehnten ist Familie Seer nun mit der ehemaligen „Pasch“ auf der Reibfläche von Wind und Wasser unterwegs. Am liebsten bei Hochdruckwetterlage, wenn eine gleichmäßige Ostwindthermik nachmittags eine köstlich konstante Brise übers Bayerische Meer schickt. Dann preschen die maronenbraunen Planken durch das grüne Wasser dem Alpenpanorama mit Hochplatte und Kampenwand entgegen. Ein seglerisches Nirwana. Sollte an heißen Sommertagen jedoch die Luft stehen, hängt die australische Fahne schlapp am Heck. Dann dient die „Dreamtime“ als Badeplattform. Womit wir bei der zweiten und dritten Anomalie wären.

Der blaue Southern Cross erinnert an die australische Herkunft von Ehefrau Jill. In seinen „Songlines“ hat Bruce Chatwin die Wanderschaft der Aborigines anstelle der Sesshaftigkeit als ideale Lebensform, als „Dreamtime“ beschrieben. Auch passt der Name zur schönen Auszeit auf dem See. Die Töchter Nicola, Daniela und Sohn Benny wuchsen mit dem Boot auf. Es sieht danach aus, als würde der Stammhalter die Segelleidenschaft des Vaters und des Großvaters fortsetzen.

Wenn außer Seer keiner Zeit hat, geht er mit „Linoo“ an Bord. „Das ist ein Pointer-Mischling. Meine Tochter Nicola brachte ihn aus Griechenland mit. Er ist zwar schon zweimal über Bord gefallen. Aber ich hab ihn immer gepackt und ins Boot gehoben.“ So ein flachbordiger Renner ist halt schon auch praktisch.

Die gute Zeit an Bord lässt die Instandhaltung der Antiquität fast vergessen. Gleich nach der Übernahme des Boots wurden 30 Meter Planken gewechselt und ein neues Deck verlegt. Es hat mittlerweile Patina. Und wenn 2,7 Tonnen Mahagoni über Eiche und Blei auf so gelassen australisch-bayerische Weise in die Familie reinwachsen, kann man auch mal den 90. Geburtstag des Gefährts bei einer konstanten thermischen Brise aus Ost feiern.

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