Zu Fuß zum Trollfjord

Die Kathedrale ist der dramatischste aller norwegischen Fjorde. Er wird von Ausflugbooten und Kreuzfahrtschiffen angesteuert. Man kommt da auch zu Fuß hin.

Vom fernen Bodö auf dem nordnorwegischen Festland erscheinen die Lofoten Inseln als unwirklich alpin übers Meer wipfelnde Bergkette. Ende Mai bis Mitte Juli sind die Schnee bedeckten Hänge rings um die Uhr besonnt. Eine bizarre Gegend nördlich des Polarkreises, die sich im Lauf warmer Mittsommerwochen im langärmligen Hemd entdecken lässt. Von den Gletschern der letzten Eiszeit verschont, behielt der hundert Kilometer lange Gebirgszug seine imposant gezackte Erscheinung.

Berühmt für den einstigen Fischreichtum von Januar bis April, als sich der Dorsch je nach Schichtung des Golfstrom warmen Atlantik über dem kaltem Küstenwasser ufernah oder draußen im trichterförmigen Westfjord zwischen den Inseln und Festland in großen Schar zum Laichen einfand. So herrschte anlässlich des Lofotfischfangs in den Ortschaften zu Füßen der Felsen Goldgräberstimmung. Am Schicksalstag des 11. Februar 1849, als sich die Fangflotte nach wochenlanger, den Fischern vom schlechten Wetter aufgezwungener Pause bei der erstbesten Besserung aufs Meer wagt, wird sie von einem Schneesturm überrascht. 300 Lofotfischer erfrieren und ertrinken in wenigen Stunden.

Später führt die Effizienz Dampf betriebener Kutter und ergiebiger Senknetz Fangtechniken wiederholt zum handfest ausgetragenen Zwist mit den herkömmlich arbeitenden Ruder- und Segelfischern. Als die motorisierten Seeleute am 8. März 1890 die hundert Meter breite Zufahrt zum zwei Kilometer langen Seitenarm des Raftsunds abriegeln, um die im Trollfjord wimmelnde Beute allein an Bord zu hieven, platzt den später eintreffenden Segelfischern der Kragen. Sie entern mit Rudern und Bootshaken von ihren kleinen schaukelnden Nordmännerbooten die hochbordigen Dampfer, verprügeln die Besatzungen der Kutter und verschaffen sich Zugang zum Dorsch.

Schlacht am Trollfjord

Die sogenannte „Schlacht am Trollfjord“ mitten in der Kulisse schneeweißer, tausend Meter den Fjord umschließender Berge, wird zum Datum der norwegischen Geschichte, in Erzählungen und Gemälden heroisiert. 1893 verbietet die norwegische Nationalversammlung im fernen Oslo die Senknetzfischerei. Auch wenn der Denkzettel für die raffgierigen Modernisierer angesichts des überfischten Nordmeers auf Dauer kaum geholfen hat: Das Ereignis bleibt erinnerns-, der spektakuläre Trollfjord selbst sehenswert. Kein Wunder, dass der norwegische Postschiff- und Küstennahverkehr der Hurtigroute die Sehenswürdigkeit allein für touristische Zwecke ansteuert. Die Dampfer fahren langsam herein und kehren mit einem umständlichen Drehmanöver im Sackgassen engen Trollfjord um. Ein Hurtigroutenschiff ist sogar nach dem berühmten Fjord getauft. Bootsausflüge ab Svolvær sind Höhepunkt nahezu jeder Lofotenreise.

Der lofotigste Fjord aller Fjorde

Da muß ich mal hin, jedoch nicht auf die übliche Tour. Jeder kann sich bequem in den Trollfjord schippern lassen. An der Reling stehend alles abfilmen und die Kamera dabei nicht mal drehen müssen, weil einem der Dampfer selbst diese Bewegung abnimmt, geht nicht. Sich den spektakulären Fjord erwandern, ist zwar unbequem, dafür Welten interessanter. Zu Fuß zum Trollfjord, über die Schulter des Trollfjordtindan laufend, den Gunnar Berg so unwegsam auf seinem kolossalen Schlachtgemälde verewigte, als handele es sich um einen Talkessel im fernen Hindukusch. Ob das geht, wei ich nicht. Aber den Versuch ist es wert.

Dass Einheimische einsilbig wie kopfschüttelnd meinen, ihres Wissens habe keiner diese Tour probiert, ist ein Grund mehr, zum Trollfjord zu gehen. Die so genannte „Kaiserroute“ von Svolvær aus schön küstennah und bequem ablatschend an den Hobbynorweger und Lofotenfan Kaiser Wilhelm II denken, das kann jeder. Ich strebe nach höherem, der Kathedrale!

Auf zur Kathedrale

Auf der schmalen, in den Austnesfjord ragenden Landzunge Sildpolnes steht eine kleine, weiß gemalte Holzkirche. Interessanter als die hübschen, unter der Decke hängenden Modelle herrlich geschwungener Nordmänner- und Fischerboote ist der Blick zu den kühnsten Lofotengipfeln. Der 1.062 m hohe Felsendom des Reknes, daneben der schroffe, 1.161 m hohe Gipfel des Trolltindan, sind Tag und Nacht von allen möglichen Seiten beschienen. Dahinter soll der Trollfjord liegen, behauptet die Karte. Angesichts dieser Felswand verstehe ich die Einheimischen. Die Sonne wandert nordwärts und lässt das Gebirge in weichen warmen Farbtönen leuchten. Rauschend stürzen die Bäche aus luftiger Höhe hinab. Die Berge rufen. Der Trollfjord lockt. Der etwas über seine alpinen Möglichkeiten hinaus planende Abenteurer wird zum hingerissenen Gaffer und Gucker. Nach einer Weile gebe ich die Suche nach einem Fußweg zum Fjord auf. Zu steil für einen Flachlandindianer wie ich und keine Ahnung, wie es dahinter aussieht.

Wer vom Kraxeln nichts versteht, braucht einen Bergführer. So kommt die Begegnung mit einem jungen Mann aus Tromsö im Lofoten Sommerhotell gerade recht. Dank einschlägiger Erfahrungen auf anderen Kontinenten wird er „Himalaja Tore“ genannt. Die Fertigkeiten von Handwerkern und Nordländern verhält sich bekanntlich umgekehrt proportional zu deren Mitteilsamkeit. Himalaja Tore sagt so gut wie nichts. Nach einer gründlichen Denkpause kommentiert er meine Idee mit einem „Ja-a“, der eine weitere folgt. Ansonsten erschöpft sich sein Beitrag zu unserer ersten Begegnung in einem fragenden bis zweifelnden Blick auf das anscheinend zum Äußersten entschlossene Gegenüber. Himalaja Tore möchte erst mal die Karte studieren und prüfen, ob das gehe, „til Trollfjorden, ja-a.“ Laut Blatt 1131 I des Statens Kartverk gibt es einen gangbaren Umweg.

Zum Abschluss eines ungern und klösterlich alkoholarm gefeierten Mittsommerfests püttern Tore und ich zwei Uhr früh im Schlauchboot von Budalsneset durch die Bucht des Austpollen zur Mündung eines kleinen Baches. Wo der Wille groß ist, gibt es auch einen Fußweg zum Trollfjord. Er folgt hinter dem 700 Meter Hügel mit dem schönen Namen Middagshumpen dem Austpollbach, führt westlich am gleichnamigen See vorbei, die Telegrafenmasten entlang zum See mit dem sprechenden Namen Isvatnet, schließlich über die Schulter des Trollfjordtindan. Dann geht es östlich und irgendwann mal abwärts zum Meeresspiegel des Trollfjord. So der Plan.

Der spiegelglatte Fjord wiederholt das Spektakel der ringsum stehenden Berge, als würde einmal richtig herum nicht reichen. Wir ziehen das Gummiboot an der Mündung des Austpollbaches unter die Birken, lehnen den Außenbordmotor an den bemoosten Sockel des Middagshumpen und machen uns in der kühlen, taghellen Mittsommernacht auf die Socken. Solange in Norwegen das Wasser noch fließt statt fällt, gelangen alpin weniger routinierte Norddeutsche zu Fuß zum Trollfjord. Der Weg jedenfalls ist abwechslungsreich, mal steil, mal eben und so matschig, dass das frisch getaute Eis des Austpolltales fast in die Bergstiefel läuft. Sogar ein Gespräch kommt mit Himalaja Tore zustande. Wir beschäftigen uns mit Themen, die Männer überall, selbst in freier Wildbahn einer der weltweit schönsten Landschaften, fesseln: Autos, Computer und Fernreisen.

Eine schöne Geschichte soweit, bis mir Tore angesichts leider aktuellem Elchkot erklärt, die vierbeinige Landbevölkerung hätte gerade Junge. Sie lege Wert darauf, den Nachwuchs in den schönsten Wochen des Jahres ungestört von wanderfreudigen Urlaubern mit müßigem Gehen, nachdenklichem in der Landschaft herum Stehen und bequemen Äsen zarten Grünzeugs vertraut zu machen. Elche stünden unbewegt, daher recht spät für blindfüchsige Städter erkennbar im Birkenwald herum, bis sie beschlössen, dem wenig ahnenden Störenfried mit einem mächtigen Hufhieb eine unter die Waffel zu geben. Wie seinerzeit die empörten Segelfischer gegenüber ihren Kollegen das Faustrecht anwandten. Die Empfehlung, angesichts eines missgestimmt herantrabenden Elches die Beine in die Hand zu nehmen und in unterschiedliche Richtungen zu fliehen, beruhigt mich kaum. Himalaja Tore beschleunigt dank einschlägig alpiner Erfahrung bestimmt besser und hält sein Tempo länger, als ein entsetzt vor dem wütenden Elch durchs Gebüsch stolpernder Aktivurlauber, sprich ich. Unter Fitnessgesichtspunkten und genereller Geländegängigkeit ist ein mitteleuropäischer Büromensch auf stinksaure Elchkühe oder Bullen kaum vorbereitet.

So habe ich bis zum Erreichen der Gebüsch- und Baumgrenze leider kaum Augen für die über unseren Köpfen während später Mitternachtsstunden beleuchteten Lofotengipfel kühner Tausender, denen wir Schritt für Schritt durch das quatzend sumpfige Tal von Norden her entgegen gehen. Unter sämtlichen Birken, in jedem Schatten wähne ich das dunkelbraune Fell eines patzigen Elchs, der augenblicklich zur Verteidigung seines Nachwuchs schreitet und mich schlagartig zum Passivurlauber macht. Am abschüssigen Schneehang über dem Austpollvatn gibt es keinen Elchalarm mehr, dafür die Herausforderung, nicht in den eiskalten See zu purzeln. Die Tour wird winterlich. Mal laufen wir über, teils stapfen wir durch schienbeinhohen Altschnee. Der Talkessel rings um das 395 Meter hohe Isvatnet ist mit kleinen abgegangenen Schneebrettern und Lawinen eine bizarre, kalte Welt.

Wir kraxeln den moosigen, von weichen Flechten überzogenen Südwesthang des Trollfjordtindan hoch. Ringsum ein Talkessel steiler Felsen. Kleine Gletscher, im Schatten der Nacht gefrorene, in der Sonne tauende Seen. Losgetretene Steinchen und Moosplatten verabschieden sich hurtig wegbröckelnd, kullern einen Vorsprung hinab und purzeln dann in die Tiefe – dem etwa pizzagroßen Rund des Austpollsee weit unter uns entgegen. Vor uns öffnet sich, Schritt für Schritt erstiegen, ein logenartiger Blick in die so genannte Kathedrale, den verwegensten, lofotigsten Fjord aller Fjorde: Friedlich und kaum vom Wind geschuppt liegt der Trollfjord da, wie der Vierwaldstädter See an einem helvetischen Sonntag. Hinter uns die kühle Schnee- und Eiswelt, vor uns das Braun und Grün besonnter Moose und Flechten, dazwischen schimmert der Raftsund, eine der wenigen Passagen der Lofoteninseln von Süd nach Nord.

Der Trollfjordtindan neun Uhr früh. Apart besonnte Hanglage und höchste Zeit für eine überfällige Mütze Schlaf. Das leicht gewärmte Moos bettet gut. Die Knochen sind müde. Die Muskeln lassen locker. Ich überlege, warum in der norwegischen Mythologie die Menschen während einer ausführlichen Naturbegegnung immer verschwinden, im Reich der Trolle Zivildienst leisten (Holz hacken, kochen, aufpassen, die üblichen Minijobs eben), bis geschlechtsabhängig ein findiges Aschenbrödel oder ein smarter Prinz kommt und die Ausflügler erlöst. Jedenfalls ist dieses Muster in praktisch jedem norwegischen Märchen nachzulesen. Liegt das an der Einfalt der Erzähler, an der unwegsamen, da und dort abgründigen Natur oder beidem? Anthropologie und Aberglaube. Immerhin beruhigt der Hinweis eines Lofotenhandbuchs, wonach Trolle auf „ansehnliche Blondinen mit Grübchen“ stehen, ich also nicht ins Beuteschema passe.

Nach dem verdienten Schlummer gegen Mittag in der bettenden Mooskuhle in luftiger Lofotenhöhe weder von einem patzigen Elch, Troll oder Aschenbrödel geweckt werden, ist beruhigend. Himalaja Tore aus Tromsö mahnt zum Aufbruch. Bergab läuft es sich außerdem fast von selbst. Die Telefonleitung führt uns zum Bach. Die Elche sind freundlich und gelassen genug, sich diskret mit dem zarten Birkengrün zu beschäftigen. Sie erwarten uns gewiss später, wenn wir voller Eindrücke unkonzentriert durchs Austpolltal zurück bummeln. Unten am funkelnden Wasser die redlich verdiente Brotzeit. Programmgemäß schleicht ein schwarz-weißes Exemplar der Hurtigroute in die Kathedrale. Den Kaffee brauen uns Segelfreunde, mit denen wir an der einzigen Anlegestelle am Nordufer des Fjords verabredet sind. Dahinter die abschüssig steile Wand des Trollfjordtindan mit dem eigenwillig gezackten Bändern grüner Vegetationsstreifen im Fels.

Ungläubig wie ein Troll werde ich beäugt, Himalaja Tore weniger. Dem fitten, einschlägig bewanderten Burschen aus Tromsö haben sie die Tour zugetraut, mir nicht. So grausam können Freunde sein. Die Stiefel dampfen, die schlammig feuchten Hosenbeine trocknen in der Nachmittagssonne. Über uns der 830 Meter hohe Trollfjordtindan, den Gunnar Berg in seinem opulenten Schlachtgemälde so Eis gepanzert, unbegehbar und schrecklich zeigt, wie einen Siebentausender im Hindukusch.

Später, wenn ich für solche Touren zu alt oder faul bin und als Enkelkinderaufpasser daheim Zivildienst leisten muss, werde ich den Kleinen einfach das Bild von Gunnar Berg zeigen. Dazu die sympathische Geschichte von den an- und rückständigen Segelfischern erzählen, die ihren raffgierigen Kollegen im Trollfjord eine Tracht Prügel verpassten. Weil ab und zu in der Geschichte ja die Guten statt die Stinker gewinnen. Beiläufig würde ich erwähnen, dass ich da mal zu Fuß hin sei. Über den Sattel und so. Die Kleinen werden mich angucken wie ein Yeti. Die Tour finden die Kleinen bestimmt cool, falls die Bezeichnung für Extratouren und Heldentaten dann in unserem Wortschatz noch vorkommt.

→ Artikelbeispiele