Im Ersatzkanzleramt

Ein Besuch des Domizils von Konrad Adenauer in gut isolierter Lage oberhalb von Cadenabbia am Comer See.

Nirgendwo ist der Comer See derart prima bacino wie zwischen Menaggio und Lenno. Die wenigen Kilometer dieses südwestlichen, vollends der Sonne zugewandten Uferabschnitts sind die Riviera des Gewässers. Ein bota­nischer Garten, aus dessen grüner Pracht historische Villen und traditionsreiche Hotels hervor lugen. Seit jeher urlaubt der lombardische Geldadel hier. Auch der Klerus genoß die angenehm von der Breva ventilierte Sommerfrische am Lago und schlug mit manchem Bacchanal über die Stränge, statt gottesfürchtig im stickigen Mailand zu schwitzen.

Logenblick nach Bellagio

Bereits im März melden sich die Magnolien mit weißen und rosafarbenen Blüten, die Mimosenbäume leuchten gelb. Auch im April dauert es eine Weile, bis sich Nebelschwaden oder Dunst in der Sonne über dem Wasser verflüchtigen. In den Morgenstunden erscheint die pastellfarbene Häuserfront der gegenüber liegenden Ortschaft Bellagio unwirklich wie ein Kurort des 19. Jahrhunderts. Sacht nippt der See am Kies, das Wasser gluckst unter den Steinmolen. „Alles ist vornehm und sanft“ meinte Marie Henri Beyle alias Stendhal über die Gegend. Auch zwei Jahrhunderte später trifft die Beschreibung der Verhältnisse noch weitgehend zu, jedenfalls in der Vor- und Nachsaison.

Die Straße schlängelt sich zwischen Lago und dem tre­mazziner Hügelland das Ufer entlang. „Und jetzt vier Wochen Urlaub in Tremazzo“ begeisterte sich Greta Garbo im Finale eines Films. Mit der kühlen Greta nach Tremazzo. Das Publikum war hin. Im Garten der Villa Carlotta liegen sich die marmornen Armor und Pysche anmutig wie delikat in den Armen. Ein mailändischer Marchese leistete sich das stattliche klassizistische Sommerdomizil.

Nebenan in Cadenabbia, einer Partnerstadt des rhein­ländischen Bad Honnef, geht es beim Britannia Hotel den Hang hinauf. Zwei Serpentinen, in der nächsten Kehre ein schmiedeeisernes Tor. „Attenti al cani“ warnt ein Schild von den Hunden. Das Zyklopenauge einer Videokamera mustert den Besucher. Er kommt angemeldet. Mit leisem Klacken entriegelt das Tor. Die Zufahrt durch den 27.000 qm großen Park ist picobello geteert. Zunächst kein Mensch weit und breit, nur subtropische Botanik und oben zwei schwarze, federnden Schritts nahende Boxer.

„Die tun nichts“ ruft Antonia Sanchez, die Leiterin der „Internationalen Begegnungsstätte Villa La Collina“. Das behaupten Hundebefehlshaber immer, bis sie eines Tages von ihren Vierbeinern eines schlechteren belehrt werden, weil Hunde gelegentlich eine eigene Meinung haben. Nachdem Dana und Don Alfonso genug geschnüffelt haben, trollen sie sich. Erleichtert folgt der Besucher dem Kiesweg zur Villa auf dem Hügel. Azaleen, Rhododendren, Camelien – hier wächst alles, soweit Gärtner es zulassen. Diese haben präzise und entsprechend exekutierte Vorstellungen einer auf’s Übersichtliche domestizierten Wildnis. Geordnete Verhältnisse unter subtropischen Bedingungen. Da fühlt sich der Besucher aus Deutschland wie zuhause.

Oben ein türkis gekachelter, nierenförmiger Pool. An der Leiter ein Rettungsring. Hier guckt der Badende zum rusti­kalen Gemäuer der Villa Serbelloni hinüber, wo sich der Lago in den rechtsschaffenen östlichen Arm Richtung Lecco und den mondänen, westlichen, gen Mailand gerichteten teilt, wo sich Armor und Psyche ein Schäferstündchen gönnen. Bellagio, bi-lacus, Ort am doppelten See. Darüber die schneebedeckten Gipfel der Bergamasker Alpen.

Am Hang einige Gewächshäuser, der Park ist bereit zum frühjährlichen Blütenfeuerwerk. Wenige Laute dringen von der Uferstraße hinauf. „Die Gegend am Comer See ist keine alltägliche Gegend“ meinte die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits 1963 unbeholfen und auch zutreffend. Stille. Keine schnaufenden Boxer, keine Frau Sanchez, keine Erläuterungen. Der Lago glitzert. Wir verstehen, wie sehr Adenauer die „vollständig isolierte Lage“ mochte. Der Hausarzt hatte dem greisen Kanzler zum Aufenthalt in südlichen, warmen Gefilden geraten. Er folgt ihm gern.

Im Frühjahr ‘57 weilt Adenauer das erste Mal in Cadenabbia. Er wohnt mitten im Ort und entdeckt das Boccia-Spiel. Die Bundestagswahl 1957 wird bald mit absoluter Mehrheit gewonnen, der 81-jährige befindet sich im Zenit seiner Karriere. Da steht ihm das Pepitahütchen, ein Geschenk aus den Staaten, gut. Mit dem kessen Hütchen ist der Kanzler ausnahmsweise mal nicht im Dienst. Ludwig Erhard und andere Ehrgeizlinge der jungen Republik hat der Alte noch unter dem Knüttel. Was der Patriarch will, wird gemacht.

Unpassende Fragen werden nicht oder in unmißverständlicher Mundart beantwortet. Wer die richtigen Fragen stellt, bekommt Audienz in Cadenabbia. Spaziergänge, Bootspartien, Hintergrundgespräche am Kamin, ohne Tonband, versteht sich. Der Regelkreis der Macht. Die Gegend am Comer See ist keine alltägliche Gegend, der dienstliche Ausflug zum Kanzler am Lago eine Auszeichnung. Hier gedeihen Zitronen, wird nicht wieder aufgebaut, hier ist das meiste geblieben, wie es immer war. Eine entspannte Situation, Gelegenheit, alles nochmal aus der Ferne zu betrachten, Weltlage und Bonner Verhältnisse zu durchdenken. Hier werden Strippen für die junge Bundesrepublik gezogen.

Vier Jahre regiert die CDU/CSU, das heißt eigentlich Konrad Adenauer allein. Die Opposition redet, stört jedoch kaum. Wohlstand für alle, die Rentenreform, Westorientie­rung. Auf Empfehlung des Bürgermeisters von Cadenabbia mietet Adenauer seit Herbst ‘59 die abgeschieden gelegene Villa Collina. Der Kanzler kommt fortan mehrmals jährlich, im Frühjahr einen Monat und im September einige Wochen. Zwischendurch, soweit es paßt. Abflug Wahn, Ankunft Malpensa, damals noch ein Militärflughafen. Die Villa La Collina wird zum Ersatzkanzleramt.

Hier regiert Adenauer fernab vom politischen Tagesgeschäft telefonisch. „Jeem se mir mal den Globke“. Der Fernschreiber hält ihn auf dem Laufenden. Fräulein Poppinga, die Sekretärin tippt Adenauers „Erinnerungen“, stenographiert das politische Vermächtnis. Die Rhöndorfer Manuskripte reifen. Tochter Libeth Werhahn „unternimmt, begleitet von Herrn Ministeri­aldirigent Dr. Selbach eine sechsstündige Gipfelwanderung“. Zwei mal täglich lange Spazier­gänge durchs tremazziner Hügelland, zum Verschnaufen reichen die Sicherheitsbeamten ein Sitzkissen. Zwischen­durch eine Partie Boccia. „Grün wirft“ erklärt „der gebürtige Südtiroler und Dorfpolizist Kofler“ und der „Löwe vom Rhein“ geht leicht in die Knie.

Im Jahr nach Adenauers erstem Cadenabbia Urlaub exportiert Italien 32.000 Bocciakugeln in die Bundesrepublik. Abends „lustiges Beisammensein“, frivol herablassende Bemerkungen über „die langen Unterhosen der armen Frau Pappritz“. Die Carabinieri hocken mit Trillerpfeife – einem Vorläufer des Mobiltelefons – im Gebüsch und sichern den Staatsmann, Bedeutendes und weniger Wichtiges im Ersatzkanzleramt.

Golo Mann kommt „telegraphisch avisiert“ aus Lugano. Das Gespräch verläuft günstig. Mann bleibt über Nacht beim Großwesir, bedankt sich: „Die Augen über und hinter schwer hängenden Säcken; eher klein, blaß und in die Ferne blickend. Eine ganz leichte Ähnlichkeit mit der letzten Photographie Metternichs …“ Die Gegend um den Comer See ist keine alltägliche Gegend.

Montag, 2. September 1963: „11 Uhr Frühstück mit Herrn Springer und Herrn Weber“, später „kurze Fotoreportage“ für die „neue Il­lustrierte“. Hilmar Pabel nimmt für den Stern „an einer Bootsfahrt“ teil. Die Illustrierte „Quick“ berichtet direkt aus der Lombardei, die „Wochenschau“ filmt. Später „Beleuchtung der Insel Comacina für den Herrn Bundeskanzler“. Anno ‘66 porträtiert der österreichische Maler Oskar Kokoschka den alten Mann in seiner Wahlheimat. Verwischte Farben. Blau dominiert, das Gesicht schemenhaft zu erkennen. War er noch da, oder bereits in seiner historischen Bedeutung aufgegangen?

Der Barbier von Cadenabbia singt

Beim Sonntagsgottesdienst singt „der Barbier von Ca­denabbia“ für den „Löwen vom Rhein“, wie die Einheimi­schen den deutschen Kanzler respektvoll nennen. Auch der Italiener liebt Autorität, die klare Ansage, Stärke. Führung erspart die Last des Denkens. Eigentlich hatte Renzo Toscani keine Haare schneiden, sondern sein Leben ganz dem Gesang widmen wollen. Doch hatte das weitblickende Familienoberhaupt dem Sohn diesen Weg mit Blick auf das tägliche Einkommen und die Nachfolgeregelung des orts­ansässigen Friseursalons verwehrt. Jetzt, wo der Senior mit Adenauer Boccia spielt, ist die Stunde gekommen, Adenauer eine besondere Freude zu machen. Der „Barbier von Cadenabbia“ trägt beim Gottesdienst das „Agnus Dei“, das „Largo“ von Händel und ein „Ave Maria“ vor. Der Katholik lächelt und „schaut wieder auf seine gefalteten Hände“. Der Vater ist stolz, Renzo Toscani für einen Augenblick berühmt.

Ein Jahrzehnt nach Adenauers Tod übernimmt die Konrad Adenauer Stiftung den fabelhaften Garten mit der nüchternen Villa. Ein ockerfarbener, dreistöckiger Bau mit dem Charme eines in die Jahre gekommenen Hotels. Die schmiedeeisernen Gitter der ersten Etage ruhen auf efeu­umrankten Rundbögen, braune Fensterläden schützen während der Sommermonate vor der gleißenden Sonne. Im Treppenhaus eine Büste des ersten Kanzlers der Bun­desrepublik. Gardinen, Spitzendeckchen, im Kamin- und Wohnzimmer sichtlich gebrauchte Sessel (Eiche), ein Flügel. Das Air der frühen Sechziger. Bonn Bad Godesberg, Rhöndorf leicht patiniert. Der Mief eines Seniorenhaushalts. Vier Jahrzehnte museal konservierten Stillstands. Schleiflack vergilbt. Der Bücherschrank ein modernes Antiquariat des kalten Krieges. John Barron: Der KGB. Arbeit und Organisation des sowjetischen Geheimdienstes mit einem Beitrag von Alexander Solschenyzin, Scherz Verlag 1974.

An den Wänden Fotos vom Alten, wie er einheimischen Kindern die Hände schüttelt. Der Patriarch zum Anfassen. Der Unnahbare in der Menge. Der Visionär unter „einfachen Leuten“. Das von der Situation geforderte abwesende Lächeln. Daneben Protagonisten der Bimbes- und Bundesre­publik. Dr. ehrenhalber Helmut Kohl und Theo Waigel. Wegabschnittsgefährten zu vorgerückter, fröhlicher Stunde. Man hat zusammen gegessen, getrunken, gelacht und voneinander Maß genommen.

An der südlichen, der kühlenden Breva zugewandten Seite des Hauses eine schattenspendende Pergola. Das rustikale Schnitzwerk eines Schildes bezeichnet das Ge­wölbe als „Bundesratsstube“. Nicht jedes Konterfei an der Wand ist a jour. Musterschüler Roland Koch blickt leutselig mit geneigtem Kopf in die Kamera. Daneben das Porträt eines blonden Jünglings aus Tagen, er noch Faktotum und Taschenträger des verdienten Landesvaters Franz Josef Strauß war. Wer dem Herrn beharrlich und tapfer dient, wird wie Edmund Stoiber eines Tages selbst einer.

Abschließend ein Blick ins Gästebuch. Eintrag 27. August 2000: „Möge der GEIST dieses Hauses und das Erbe Dr. Konrad Adenauers endlich wieder Früchte hoher Moralität und Glaubwürdigkeit in der Politik und im vereinten Europa schaffen“. Die Gegend am Comer See ist keine alltägliche Gegend. Wir folgen dem schmalen Kiesweg den Hügel hinab. Dana und Don Alsono genießen die wärmende Aprilsonne und machen keine Anstalten sich zu erheben. Gähnend räkeln sie in der Sonne. Frau Sanchez hat nochmal Lippenstift nachgezogen. Das Tor öffnet elektrisch. Es schließt mit leisem Klacken.

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