Variationen der schlanken Linie

Knud Hjelmberg Reimers‘ rhetorisches Geschick, Talent und Glück machten den gebürtigen Dänen zum führenden Yachtkonstrukteur Schwedens. Ein Porträt des prominentesten Vertreters der schlanken skandinavischen Linie.

Anfang der fünfziger Jahre überführt Reimers den 25-Meter-Zweimaster „Agneta“ für den italienischen Industriellen Giovanni Agnelli von Stockholm zur Werft Camper & Nicholson nach Gosport. Die letzten Meilen im Solent gönnt sich der Konstrukteur einen besonderen Spaß. Unter gutgefülltem Tuch durch eine Flotte anderer Segeljachten preschend, verlässt Reimers das Steuerrad und geht mit seinen Söhnen zum Bug. Als sei der Autopilot eingeschaltet, jagen die schlanken, rotbraun schimmernden Mahagoniplanken schnurstracks durch das Wasser. So eine Show haben die applaudierenden einheimischen Segler noch nicht gesehen.

„Als Jugendlicher segelte ich ab und zu mit Knud in den Stockholmer Schären“, erinnert sich der schwedische Starclippers-Reeder Mikael Krafft in Monaco. „Es spielte keine Rolle, wie lange wir bereits unterwegs waren, wie spät und wie kühl es wurde, ob jemand Hunger hatte oder durstig war. Knud genoss es in vollen Zügen, auf dem Wasser zu sein. Die Rückkehr an Land musste unter einem Vorwand erzwungen werden, und es wurde oft Mitternacht, was bei den langen Sommertagen im Norden natürlich kein Problem war, jedenfalls nicht für Knud.“

In den siebziger Jahren entdecken auf den Stockholmer Außenschären bei Sturm eingewehte Segler eine Jacht, die das gut belegte Becken des Schutzhafens allen Ernstes unter Segeln ansteuert. In der Mittelplicht hockt ein Ehepaar fortgeschrittenen Alters, stoppt mit versiert gegen den Wind gedrücktem Vorsegel und lässt die Tücher an Deck gleiten, während das Boot durch das Becken treibt. Es sind Effi und Knud Reimers mit ihrem S30-Tourenschärenkreuzer. Kopfschüttelnd nehmen die Beobachter des heiklen Manövers die Leinen entgegen und stellen den Schiffer zur Rede. „Wieso? Ihr habt doch gesehen, dass es geht. Ihr müsst bloß das richtige Schiff segeln und ein bisschen üben“, meint der kühne Senior.

Ausgewogene Konstruktionen

Mögen die gestreckten Linien seiner schnittigen Boote für sich sprechen. Ihre seglerischen Vorzüge führt der prominente Vertreter skandinavischen Jachtentwurfs rasend gern vor. Seine Konstruktionen sind so ausgewogen, dass sie allein Kurs halten, sie drehen auch bei voller Fahrt in einem engen Hafenbecken praktisch auf dem Teller. Reimers ist ein selbstbewusster, redegewandter Schalk, meist für einen Jux oder würzigen Kommentar zu haben.

Bei einem Besuch der Werft Beck & Söhne auf der Insel Reichenau am Bodensee, wo Bootsbauer Friedrich Winterhalter mit einer Serie des Reimersschen „Bijou“- Typs die bis heute anhaltende Renaissance des 30-Quadratmeter-Schärenkreuzers einleitet, steht der alte Ästhet erschüttert vor einem Raumwunder aus der Großserienfertigung. Es bringt auf acht Metern so viel Stehhöhe und Kojen unter wie Reimers mit Ach und Krach auf 16. „Eher bricht mir der Stift ab, als dass ich so ein scheußliches Boot zeichne“, meint Reimers. Was würde er wohl bei den aktuellen Volumenmodellen sagen?

Geld verdient er mit der Konstruktion von Tourensegelbooten, Motorjachten und Frachtschiffen. Mit dem Entwurf der schlanken, schnellen Schärenkreuzer, der Kür seines Lebens, belohnt er sich und die Jachtwelt. Sie haben wenig Freibord. Die Reimersschen Deckskanten sind unmerklich und spannungsreich geschwungen. Nie kommen sie mit einem wohlfeil übertriebenen Sprung manches heute üblichen Retrodesigns daher. Mit der Rundung ihres Löffelbugs und der gestreckt über dem Wasser schwebenden Heckpartie segeln sie ästhetisch aus einer anderen Welt in unsere Tage.

Größte Variante des Themas „Schön schlank“

Von ihrer Länge abgesehen, der einzigen Extravaganz vieler seiner Boote, wirken seine Entwürfe mit hintergründigem Reiz. Dies erklärt, warum „Agneta“, seine größte Variante des Themas „Schön schlank“, in den Häfen der Côte d‘ Azur, Liguriens oder des toskanischen Archipels allenfalls Liebhabern auffällt. Es ist die zurückgenommen schlichte Eleganz, welche die Reimersschen Entwürfe zum Beispiel skandinavischer Formgebung macht.

Merkmal seiner Fahrtenjachten wie etwa des 10-Meter-Kajütkreuzers „Bacchant IV“ oder des S30-Tourenschärenkreuzers ist das stufige Deckshaus mit dem giebelförmigen, einander zugewandten Fensterpaar. Der stufige Aufbau bietet im Eingangsbereich der Kajüte, wo zum Abstreifen des Ölzeugs, am Herd und Navigationsplatz Stehhöhe gefragt ist, die nötige Kopffreiheit. Der Spaßvogel nannte die hintere Stufe „Groghytte“, weil man nach einem haarsträubenden Anlegemanöver da in Ruhe einen Kurzen kippen kann.

Neben dem Talent zum Entwurf ansehnlicher Boote gründet die Karriere des Dänen auf seiner Eloquenz. 1906 im dänischen Århus geboren, wächst Reimers in bescheidenen Verhältnissen auf. Die Mutter stirbt früh. Der Vater findet bei der örtlichen Zeitung als Setzer ein Auskommen. Als sich Reimers um eine Seemannsausbildung an Bord des fünfmastigen Schulschiffs „København“ bewirbt, wird er wegen Kurzsichtigkeit nicht genommen. Auf der nächsten Reise verschwindet der Rahsegler mit Mann und Maus im Südatlantik. Es hat wenige, manchmal entscheidende Vorzüge, Brillenträger zu sein.

Doppelter Stundenlohn für Schmuddeljob

1926 beginnt er eine Lehre bei der Friedrich Krupp-Germaniawerft AG. Der starke Dollar gegenüber der Reichsmark macht die Kieler Werft damals zum gefragten Lieferanten großer Jachten. Dann lernt er in der Konstruktionsabteilung von Abeking & Rasmussen unter der Anleitung seines Landsmanns, des gebürtigen Dänen Henry Rasmussen, Boote zeichnen. Die späten zwanziger Jahre sind die große Ära des Holzjachtbaus in Lemwerder. Hier wird für einheimische wie amerikanische Rechnung gebaut. Damals lassen Prinz Heinrich, der Reeder Erich Laeisz oder der Industriellensohn Hugo Stinnes R-Jachten und Schärenkreuzer der 30-m2-Klasse am linken Weserufer zeichnen und tischlern. Für diese Klientel braucht Reimers ein ordentliches weißes Hemd. Weil sich die kostspielige, für das berufliche Fortkommen unerlässliche Anschaffung aus dem knappen Salär von 55 Reichsmark nicht bestreiten lässt, schrubbt der Däne nebenher die Waggons der Reichsbahn. Von unten, weil dieser Schmuddeljob den doppelten Stundenlohn bringt.

Zügig absolviert er an Bremens Technischer Hochschule ein Studium zum Schiffbauingenieur. Im August 1930 beginnt Reimers als Zeichner beim angesehenen Regattasegler und Jachtkonstrukteur Gustav A. Estlander in Stockholm. Der plötzliche Tod Estlanders in Dezember des gleichen Jahres macht Reimers zum Nachfolger des gefragten Konstrukteurs. Mitte Januar 1931 übernimmt der Vierundzwanzigjährige das Büro. Die Kronen zum Erwerb der Estlanderschen Firma samt ansehnlichem Kundenstamm leihen ihm Mitglieder des Königlich Dänischen Jachtclubs.

Nun muss sich der gewitzte Däne nicht mehr mit heimlich aus Bremens Gemüsegärten gerupften Rüben durchschlagen oder dem Schrubben von Eisenbahnwaggons. Jetzt entwirft er für Eric Lundberg, den erfolgreichsten Segler Schwedens, Regattaboote. Bei Lundbergs „Valiant“ stellt Reimers den Mast erstmals auf Deck, statt ihn durchzustecken, eine damals unübliche, dafür platzsparende, trockene Lösung. Den Stauchdruck der Takelage verteilt er großflächig über eine Mastbrücke mittschiffs. Der Ingenieur wird sie im Lauf der nächsten Jahrzehnte beibehalten. Für Lundbergs „Korybant“ experimentiert Reimers schon in den dreißiger Jahren mit einem drehbaren Profilmast.

Linien in leicht geänderter Form

1937 zeichnet er für Lundberg die berühmte „Bacchant 11“. Der 19,40 Meter lange, keine drei Meter breite 75-m2-Schärenkreuzer machte Ende des 20. Jahrhunderts als seglerisch ernstzunehmende Veteranin bei Regatten auf dem Lake Michigan von sich reden und liegt heute tipptopp gepflegt im Milwaukee Jachtclub. Der längste 75er Schärenkreuzer seiner Klasse ist Vorläufer des modernen Tourenschärenkreuzers, wie Reimers ihn in den Klassen 22, 30, 40 und 55 Quadratmeter vier Jahrzehnte später entwirft. Zu Lundbergs nächstem Vorhaben, einem Atlantikrekord an Bord einer 25 Meter langen 150-Quadratmeter- Schäre, kommt es nicht mehr. Aber die Linien sind in leicht geänderter Form beim Seekreuzer „Agneta“ erhalten. 1948 zeichnet Reimers diese Yawl für den schwedischen Dampfturbinenerfinder Oskar Wiberg.

Seit seiner Ausbildung an Henry Rasmussens Zeichenbrettern Ende der zwanziger Jahre bleibt Reimers beim Schärenkreuzer, variiert die schöne schlanke Linie im Lauf der folgenden Jahrzehnte. So avanciert er zum international bekanntesten Konstrukteur des ursprünglich schwedischen Bootstyps. 1938 werden in 24 verschiedenen Ländern 124 von Reimers entworfene Boote gebaut. Wie Rasmussen, dessen Kontakte in die Staaten die Existenz in schwierigen Zeiten sicherte, verlässt sich Reimers nie auf den heimischen Markt. Er sucht und findet sein Glück überall in der Welt, wo es Geschmack und Geld für den Bau und Betrieb ansehnlicher Boote gibt. In Amerika wird die Finesse der Reimersschen Planken mit der kühlen Eleganz der schwedischen Filmschauspielerin Greta Garbo verglichen.

Ein Meisterstück des Bootsbauers Fredi Winterhalter am Bodensee

Nach dem Krieg entwirft Reimers manches Boot für schweizerische Rechnung. 1959 hilft er seinem dänischen Landsmann Sven Hansen an Bord der Sparkman & Stephens-Konstruktion „Anitra“ bei der siegreich absolvierten Fastnet Regatta. 1960 zeichnet er mit der 8,30 Meter langen „Fin-Gal“ den ersten GfK-Seekreuzer Skandinaviens. 1967 leitet der Reimers-Riss „Bijou“, ein Meisterstück des Bootsbauers Fredi Winterhalter am Bodensee, die Renaissance des klassischen 30-Quadratmeter-Schärenkreuzers ein. Sie hält bis heute an, mit einer neuen Form zur preiswerten Serienfertigung und dem alljährlich am Bodensee ausgesegelten Reimers-Pokal. In den siebziger und achtziger Jahren bringt Reimers mit den familientauglichen Tourenschärenkreuzern vom Typ S30 (12,50 m, nominell 30 m2 am Wind), S40 (14,40 m, 40 m2) und Swede 55 (16 m, 55 m2) gestiegene Erwartungen an Bordleben und Komfort mit der Eleganz traditioneller Linien in Einklang.

Heute, da viele Serienboote in hektischen Produktionszyklen und gelöst von der seglerischen Tradition fast ausschließlich unter Komfort- und Vertriebsgesichtspunkten von innen nach außen entwickelt werden, erinnert das Werk des 1987 gestorbenen Reimers an den Vorzug ästhetischer wie seglerischer Gesichtspunkte. Deshalb haben seine Boote überall in der Welt ihre Liebhaber, sei es als gesegelte Antiquitäten (auch der frühen GfK-Ära) oder als Neubauten bei Thomas Bergner in Schleswig-Holstein oder der Bodenseewerft Beck & Söhne. Der Nachlass des tüchtigen Dänen, die Korrespondenz, Akten und 5000 Zeichnungen, ist im Sjöhistoriska Museet in Stockholm zugänglich.

Legendär: Der kleine und der große Tümmler

Angelsächsische Segler kennen Knud Reimers meist als Konstrukteur des „Tümmler“, eines 8,30-Meter-Spitzgatters, den er 1934 als 20-Quadratmeter-Version, 1937 als 9,80 Meter lange Variante mit zehn Quadratmeter mehr Tuch als „Albatross“ zeichnete. Gefragt war ein seetüchtiges, leicht zu handhabendes Boot. So entstand der leichte schlanke Spitzgatter mit wenig Segelfläche. Reimers ließ sich vom Bootstyp der windreichen Kosterinseln am Skagerrak inspirieren. Bemerkenswert ist die kleine, dank gestreckter Profile wirksame Besegelung.

„Ein Leichtdeplacement dieser Art zu handhaben ist die reine Freude“, fasste der englische Hochseesegler und Publizist Adlard Coles seine Erfahrungen mit seinem Tümmler „Zara“ zusammen. 1946 kaufte er mit „Cohoe“ einen leicht modifizierten Albatross und nutzte die große Tümmler-Variante intensiv für Wettfahrten. 1950 gewann Coles damit die Meisterschaft des Royal Ocean Racing Club bei ruppigen Bedingungen. Mit der Teilnahme am Newport-Bermuda-Rennen wollte er beweisen, dass kleine und leichte Seekreuzer blauwassertauglich sind. Mit der berühmten, über den Vorsteven gestülpten Nase entsprach Coles der vom ausrichtenden Cruising Club of America vorgeschriebenen Mindestlänge von 35 Fuß. Im selben Jahr gewann „Cohoe“ die erste nach dem Krieg von West nach Ost gesegelte Atlantik-Regatta. In „Schwerwettersegeln“ (Delius-Klasing-Verlag) hat Coles seine Erfahrungen mit beiden Tümmler-Typen beschrieben.

Seine Feuertaufe bestand der kleine Tümmler bei einer 1969 vom südaustralischen Melbourne gestarteten Regatta. Orkanböen mit 74 Knoten Wind sorgten dafür, dass von 100 Startern nur 14 in Geelong ankamen, darunter drei Tümmler. Schätzungen zufolge wurden beide Typen zusammen mehr als 300 Mal gebaut. Im Leichtwindrevier der Schweiz ist der Tümmler mit 28 Quadratmeter als sogenannter „Hocco“ unterwegs.

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