Solarzellendieter

Unwirklich wie Gletscher schimmern die Marmorbrüche der Apuanischen Alpen durch den Dunst des Mittelmeeres. Es ist heiß am träge dem Ligurischen Meer entgegen gleitenden Magra Fluss, der die Toskana von Ligurien trennt. Gelegentlich schuppt ein Windstrich das langsam kreisende Wasser, lässt das Schilf wogen, wuschelt durch das Laub der hohen Buchen und bringt für einen Augenblick willkommene Kühlung.

Zwei Kilometer Fluss aufwärts am Orteingang von Améglia zwischen Schilf und Bäumen ein kleiner Hafen, randvoll mit den schwimmenden Untersätzen der Einheimischen belegt. Hunde streunen über den Kies des Bootslagerplatzes, dessen Tor meistens offen ist. Ein Mittsechziger werkelt an einem von armdicken Pfosten abgestützten Gefährt, das mit seinen Solarpaneelen und eigenartigen Trichter um den Propeller eher wie ein Technologiezentrum denn Freizeitboot anmutet. Der Bastler ist im toskanischen Archipel als „Solarzellen Dieter“ bekannt. Der pagodenartigen, etwas groß geratenen Solarpaneelen Halterung verdankt sein Zuhause den Spitznamen „Onkels Toms Hütte.“ Ein sportlicher Senior, dessen letzter Friseurbesuch die eine oder andere Mondphase zurück liegt, im universell getragenen Polohemd, Shorts und Schlappen. Feiner Kerl, hilfsbereit bis zum Abwinken, einer, durch den die Welt besser wird.

Die Sache mit der Potentialdrallwirbelphysik

Anno ‘72 träumt der süddeutsche Radio- und Fernsehtechniker vom Schippern im sonnigen Süden. Doch möchte Dieter Gebhardt auch seiner damaligen Lebensgefährtin zuliebe nicht auf Annehmlichkeiten wie ausreichend Frischwasser verzichten. So plant der Tüftler sein Boot als eine von 220 Volt Steckdosen, Tankstellen und Häfen unabhängige Nautilus. Mitte der Neunziger befestigt Gebhardt ein Solarmodul nach dem anderen auf seiner „Mira“, wuchtet Batterien ins Boot, verlegt Kabel und Regler. So schnurrt die schwäbische Nautilus bei Flaute lautlos mit einem Elektromotor durch die Adria. Den Saft gibt es photovoltaisch und gratis von oben. Der Traum des Ingenieurs von der Beherrschung seiner Welt. Jetzt könnte Solarzellen Dieter eigentlich ferne Küsten, wie die griechische Inselwelt entdecken. Doch füllt einen deutschen Tüftler Souflaki essen und Sirtaki tanzen nicht aus. Überzeugungstäter wie Solarzellen Dieter haben immer was auf dem Zettel, stets einige Lüsterklemmen, Widerstände und Regler auf dem Tisch. Während seiner Bastelstunden bemerkt Gebhardt, „dass es außer Sonnenenergie ein noch unerschöpflicheres Potential gibt, die Raumstrahlung.“ Diese anzapfend möchte er „der Menschheit die erste freie Energiemaschine schenken.“

Ende der Neunziger umschifft Onkel Toms Hütte den italienischen Stiefel. Solarzellen Dieter bindet seine „Mira“ zunächst am Ufer des Arno bei Pisa an, dann landet er auf dem Magra. Gebhardt schlägt Wurzeln, fällt irgendwo in den Bergen Bäume, sägt Schweiß gebadet im Mückenwald von Hand Pfosten und Bretter und schafft sich ein neues Zuhause. Da geht ein klassischer Jungentraum in Erfüllung. Ungelöst ist mal wieder die Stromfrage. Ein Kühlschrank für ein schön kühles Moretti in der Dämmerung wäre ja nicht schlecht. Eine Dusche mit fließend Warmwasser in der „Villa Spirito Galilei“, wie er sein Refugium Augen zwinkernd nennt, wäre für die Wintermonaten auch nicht übel. Der Strom dazu soll umsonst, von Draußen als Raumenergie kommen, sobald Dieters „freie Energiemaschine“ läuft. Ein paar Batterien und Schaltungen sind ihm oben in den Bergen natürlich schon hoch gegangen, doch gehört Lehrgeld ja zum richtigen Weg.

Als ich Solarzellen Dieter an einem hochsommerlichen Abend in einer großen, zum Abendessen unter den Bäumen von Carlos Werft versammelten Clique begegne und das Gespräch nach einigem Geplänkel über woher und wohin Gebhardts Zielgerade Batterien und Solarzellen nimmt, packen alle um den Tisch versammelten ihre Sachen und räumen mit Hinweis auf die vorgerückte Stunde das Feld. Dieter und ich bleiben. Im Unterschied zu manchem, den Sonnenseiten des Lebens komplett hingegebenen Aussteiger hat Gebhardt etwas zu sagen. Es wird ein galaktischer Abend, was auch am Wein, dem raschelnden Laub über Carlos Werft, meinen rudimentären Physikkenntnissen, dem universalen, das Okkulte nicht scheuenden Interesse, schließlich dem Sendungsbewusstsein des Radio- und Fernsehtechnikers liegt: „Unser Sonnensystem schwimmt in einem Meer von Energie und ich sehe immer mehr Möglichkeiten, es anzuzapfen.“ Laienhaft verkürzt und bestimmt irgendwo falsch zusammengefasst (Besserwisser lesen das Dossier 1/03 vom „Spektrum der Wissenschaft“): Wenn man den Ladevorgang einer Autobatterie beginnt und sofort wieder abbricht, ist mehr Saft in der Batterie, als vorher, weil die Ionen im Elektrolyt nicht genug Zeit für ihren Weg auf die andere Seite hatten. Die Eigenspannung jagt die Ionen zurück, wenn findige Burschen wie Solarzellen Dieter den Ladevorgang Milli- bis Nanosekundenschnell gestoppt haben. Physiker kennen das als Nullpunkt- oder Neutronenenergie. Wiederholt Dieter seine Schaltung ziemlich oft, ist der Akku irgendwann voll.

Bisher plagte er sich mit abgebrutzelten Boots- und ausgemergelten Autobatterien herum: „Wenn ich mit sechs bis zehn Megawatt reinkomme, profitiere ich erst richtig von der Raumstrahlung und kriege jedes Mal einen kleinen Schubs gratis dazu.“ Diese Raumstrahlungs-Gratifikation ergäbe dann Dieters freie Energiemaschine, eine Art Selbstläufer. Welche Perspektiven: Die Wüstensöhne werden auf ihrem Öl sitzen bleiben und wieder bescheiden daheim Kamel reiten statt im Cayenne durch Genf kurven. Die Kraftwerke gingen offline. Die weltweite Energiemafia müsste die Krawatte ablegen und umschulen auf Minijobs. Irgendwo in Améglia kläffen Hunde, ein Käuzchen meldet sich. Mond und Sterne zeigen sich programmgemäß, bloß der Wein ist alle. Wer trinkt schon lauwarmes Moretti?

„Das ganze ist unvorstellbar phantastisch und wirklich realisierbar. Ich habe mehrere gelungene Experimente mit bis zu 20 Batterien hinter mir“ berichtet Dieter. „Natürlich gibt es noch einige elektronische und mechanische Kleinigkeiten zu lösen, die für mich überwiegend finanzieller Art sind. Ein paar moderne, leider teure Hochleistungsfeldeffekt-Transistoren“ nach reiflicher Überlegung richtig geschaltet und die Ionen in Dieters Akkumulatoren würden mit Hilfe der Raumstrahlung erst richtig tanzen, Kühlschrank und Warmwasserboiler in der Villa Spirito Galilei für lau, ach was für nichts laufen lassen. Nach dem ersten kühlen Moretti auf unendlicher Raumstrahlungs- statt begrenzt fossiler Basis wird Dieter der Menschheit die freie Energiemaschine umsonst zur Verfügung stellen. Denkbar sind eine Bastelanleitung im Internet oder freie Energiemaschinenkraftwerke.

Abgesehen von technischen Petitessen und fehlenden Euro hindern die den 66-jährigen Sohn mit einigem Geschick beanspruchende Mutter in Germatingen, ein gescheiterter Campingurlaub der Tochter, Arbeiten an der „Mira“, alltägliche Kleinigkeiten in Hafenbiotop von Améglia, die Vollendung der Hütte oder die Potentialdrallwirbelphysik, welche den Propeller seines Bootes in einem speziellen Trichter quasi von selbst mit zwei- bis dreihundert U/min rotieren lassen wird, den Tüftler an der endgültigen Inbetriebnahme der freien Energiemaschine. Dieter macht sich Sorgen, denn „wenn so ein Potentialdrallwirbel unter seinem Boot erst mal in Gang gekommen ist, ist er“ wie Gebhardts innovativer Overkill, „kaum zu bremsen.“ Die Sache ist so gut wie fertig. Fehlt bloß noch ein kleiner Schubs.

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