Tom Nitsch

Der Weg des Soziologen und Wirtschaftsgeografen Tom Nitsch zum Werbefilmer, sein Geschick, die Schönheit seines Metiers zu zeigen, mit ein, zwei Fragezeichen.

Ein Sommermorgen in der dänischen Südsee, einem Archipel, das seinen Namen mehr seinem Inselreichtum als der hier meistens erlebten Temperatur verdankt. Dafür verzaubert der kurze, intensive Sommer den Besucher. Thurø ist eine kleine Insel gegenüber dem trubeligen Provinzstädtchen Svendborg im Süden Fünens, Gambøt eine Bootsbauer- und Fischersiedlung unter hohen Bäumen am Ufer von Thurø Bund. Vor 150 bis 80 Jahren noch flogen hier in einem guten Dutzend Werften die Späne. Dann ersetzte die motorisierte Schiffahrt das Handwerk des Frachtsegelns. Heute erinnert die Walsted Baadeværft in Gambøt an die große Tradition des Holzbootbaus. Geduckte, reetgedeckte Fischerkaten, Blumen, Netze, da und dort lehnt ein Fahrrad. Die Uhr geht hier nicht langsamer als anderswo. Nur achtet man in Gambøt nicht so auf sie.

Tom Nitsch und seine 19 m Fahrtenyawl AR

25 Tonnen sichtlich verfeinerter Eiche, Lärche, schwarz verfugter Teakbohlen, Stahl, Blei und filigraner Takelage schweben auf der spiegelglatten, kaum von einer Brise geschuppten Wasserfläche von Thurø Bund. Ein Deck aus raffiniert getischlerten Mahagoniluken, Niedergangshutzen, gefolgt vom traditionellen Kartenhaus mit apart geneigtem Dach. Dahinter das Steuerrad, ein zweiter Mast, dann endet der gut 19 Meter lange, weiße Rumpf in einer kühn geschwungenen Deckskante. Das ist die „Ar“. In der Mitte zwei Tassen dampfender Darjeeling und Tom Nitsch.

Ein kleiner Knall reicht nicht, sich solch einen Instandhaltungsalptraum ans Bein zu binden. Die Leidenschaft muss bodenlos sein. In der Sprache der Engländer und Amerikaner, die prägnante Ausdrücke vorrätig hält, wird das Phänomen „wooden boat disease“ genannt. Bei der sogenannten Holzbootkrankheit handelt es sich allerdings nicht um einen beharrlichen Bohrwurm oder die gefürchtete Trockenfäule, welche Rumpf und Gebälk ruinieren, sondern die enthemmte Begeisterung eigentlich vernünftiger Leute für betagtes Wasserspielzeug. Der Hamburger Dokumentarfilmer Nitsch ist seit Jahrzehnten von dieser Leidenschaft in Beschlag genommen. Ein schlacksiger, von der letzten Kamerafahrt auf See gebräunter Fünfziger. Ein jugendlicher Typ, ernst wie die meisten Leute, die mit den Händen arbeiten. Längst hat er seine Passion für „schwimmende Kulturgüter“ und die Ausübung traditionellen Yachtsports zum Beruf gemacht. Nitsch lebt und zeigt sie.

Zwischen Luftdruckschreiber, Meilenzähler, Schiffsuhr und unzähligen Instrumenten, die es zur Navigation im flachen, verwinkelten Gewässer einer richtigen Südsee wie der dänischen braucht, hängt an der Stirnseite des Kartenhauses ein kleines schwarz-weiß Porträt. Es zeigt einen ernst zur Seite blickenden älteren Herrn in Krawatte, dunklem Mantel und Schiffermütze: Henry Rasmussen (1877 – 1959), den ersten Eigner der „Ar“. Der Gründer, Schiffskonstrukteur und Verkaufstalent des 1907 in Bremen Lemwerder begonnenen Bootsbaubetriebes „Abeking & Rasmussen“ ließ die Yacht anlässlich der Seglerolympide anno 1936 vom Stapel, um sich die Regatten in der Kieler Förde auf eigenen Planken anzusehen. Er taufte sie schlicht und ergreifend nach den Initialen seiner Werft. Bereits Rasmussens Vater baute Boote – in Svendborg. So ist „Ar“ in Nitschs Händen in Rasmussens Heimat zurück gekehrt. Seit einigen Jahren lebt der Kameramann mit seiner Familie hier.

Auf Kamerafahrt

Als eine Segelschule ihr betagtes Ausbildungsschiff ausmustert, kaufen Lebensgefährtin Angelika Berger und Nitsch 1981 das Asservat maritimer Kultur. Das erste, was Nitsch ändert, ist der ein klein wenig gewöhnliche Bootsname „Möwe“. Aus Rasmussens Renommierschlitten zur Olympiade wird wieder „Ar“. Nitsch wird zum norddeutschen Protagonisten der damals einsetzenden Renaissance alter Planken – sie beginnt im Verborgenen, in schlecht beleuchteten Bootsschuppen und Werfthallen mit wochen- bis monatelangen Instandsetzungsarbeiten in Skandinavien, England, Holland, den Staaten, in Südfrankreich und Italien.

„Du rutschst von Jahr zu Jahr tiefer ins Schiff“, schildert Nitsch die handwerkliche Herausforderung und einhergehende Identifikation mit dem Metier. Das Leben ist vielleicht ein Kunststück, die Existenz mit so einer schwimmenden Antiquität ein Gesamtkunstwerk. Damals ist die Entscheidung für Rasmussens Planken ein unzeitgemäßer Schritt. Die aus den Vorkriegsjahren übrig gebliebenen Boote gelten in den erneuerungssüchtigen 80ern als „Sperrmüll“, wie ein Kieler Politiker damals die Idee eines Museumshafens in der Förde kommentiert. Diese Ignoranz wird die Fraktion der Teerjacken und Salzbuckel diesem Schreibtischtäter und Unmenschen nicht vergessen.

Früh prägt Tom Nitschs Begeisterung für alte Jollen und klassisches Segelspielzeug seinen Kurs durch’s Fahrwasser des Lebens. Als Schüler richtet er eine eher zum Abwracken denn Segeln geeignete Jolle her und übt mitten in Hamburg auf der Alster den Umgang mit Schot und Pinne. Im Lauf der Jahre erliegt er dem Reiz raschelnden Segeltuchs und dem Charme rotbraun unter dem Bootslack schimmernder Hölzer. Auf der Elbe macht er die elementare Erfahrung, von Wind, Wellen, dem Kommen und Gehen der Gezeiten abhängig zu sein. Noch trennt Nitsch Passion und Beruf.

Während einer Perureise beschäftigt er sich mit den Folgen geographischer Gegebenheiten auf Ökonomie und Lebensverhältnisse. Der studierte Soziologe und Wirtschaftsgeograf dreht seine erste Dokumentation auf 16 mm Film. Die zuständige Fernsehredaktion folgt jedoch nicht Nitschs Erkenntnis, dass sich moderne Industriegesellschaften und Entwicklungsländer auseinander bewegen. Sie wollte einen positiven Ausblick, obwohl die Recherche es nicht hergab.

„Ich möchte heute mit dem Redakteur mal in die Barriados von Lima gehen und ihm zeigen, dass die Situation schlimmer als damals ist.“ Wie mancher Zeitgenosse wollte Nitsch die Verhältnisse anschauen, zeigen und die Welt zumindest ein bisschen verbessern, statt bloß das beste für sich aus ihnen zu machen. Die Zeiten haben sich geändert, Nitsch auch. Man muss bloß den richtigen Schwenk machen. Heute richtet er das Objektiv auf Jost Stollmanns neue 40 Meter Yacht.

Mitte der 70er hatte Nitsch seinen Job als Regionalplaner aufgegeben. Nitsch lernte das Handwerk professionellen Filmens. Bald schultert er die sackschwere Arriflex für aktuelle ZDF Berichte in Hannover. „Lohnbelichtung“ nennt er solche Auf­tragsarbeiten, den Dreh von Filmen, die ihn nicht wirklich in­teressieren. Segler dagegen sind für ihn Logenbrüder und -schwestern einer seltenen, glückenden Lebensform. Zahlreiche Features hat er mittlerweile über sie gedreht: hinreißende Bilder von der Nioulargue Regatta (1991), dem herbstlichen Auftrieb alter Yachten vor Saint Tropez. An Bord des Oldtimers „Aello Beta“ filmt er ein ehrgeizig gesegeltes Atlantikrennen oder dreht sensibel erzählte Portraits der Beziehung von Menschen zu ihren ansehnlich aufgetakelten Segelspielzeugen.

Leider hat Nitsch nach seinem wunderbaren Video „Im Zauber des Drachen. Segeln in die Verlorene Zeit“ 1998 der Mut zur sensiblen Erzählung und langsamen Schnittfolge verlassen. Sein dreiviertelstündiges Feature über die schottische Yachtkonstrukteurs- und Bootsbauerdynastie Fife of Fairlie und deren Hinterlassenschaft zeigt die Kultur der Yachtinstandsetzung und des Segelsports in einer wohltuend ruhigen Bildsprache mit seltenem Mut zum Pathos.

Sie umschifft die Kitschfallen der ausgefilmten Becks Bier Reklame, weshalb kein von der Quote paralysierter, auf entsetzliche Stereotypen abonnierter  Fernsehredakteur sie in den Äther schickt. Atemberaubende Einstellungen, schnelle Schnittfolgen mit großen,  klassischen, kühnen Yachten, die Dramatisierung mit spektakulär langen Brennweiten, kontrastierende Bilder aparter bis dekadenter Zuschauerinnen und Hunde, die dem Jahrmarkt der maritimen Eitelkeit natürlich nichts abgewinnen, sind derzeit Nitschs Lösung. Das ist die ersten Male lustig anzuschauen, erscheint in der Wiederholung leider maniriert und wird langweilig. Schade auch, dass Nitsch den nächsten Schwenk macht, „slow food“ aus der Nische endgültig durch Aktion und handwerklich gut gemachte, allerdings wohlfeile Effekte ersetzt.

Eine Frage des Schwenks

Derzeit beschäftigt sich Nitsch mit einer modernen Yacht. „Alithia“ ist der neue 40 Meter Schlitten des CompuNet Gründers Jost Stollmann. Statt sich seine neoliberalen Ideen in Schröders Kabinett auseinander nehmen zu lassen und seine Zeit bei der visionslosen Moderation der Verhältnisse zu vertrödeln, segelt Stollmann lieber: Begleitet von einigen Hauslehrern segelt Familie Stollmann gerade um die Welt. Ab und zu fliegt Nitsch mal hin und lässt sich für neue knackige Perspektiven in den 50 Meter Mast hieven. Dann schneidet Nitsch sein Material so geschickt auf Musik, bis es „groovt“, der Zuschauer eine kleine Gänsehaut bekommt. So schön ist die Welt, wenn man sich die richtige aussucht. Es ist eine Frage des Schwenks. Der Tee ist alle. Eine Möve schwebt über Thurø Bund, die „Ar“ und Nitsch mitten in der dänischen Südsee. Schwer zu sagen, ob sie klagt oder lacht.

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