Steuerfrei

Die Solosegler der Vendée Globe brauchen ihre Kraft, wachen Momente und Konzentration für wichtigere Aufgaben als das Steuern. Diesen Dauerjob übernimmt ein Automat. Mit zahlreichen Sensoren an Bord vernetzt, macht er das besser, als es der Mensch je könnte. Wie es funktioniert und was er alles kann.

Die Vendée Globe findet an der frischen Luft statt. Wie könnte das bei einer 44.000 Kilometer Regatta auf hoher See auch anders sein. Tatsächlich absolvieren die Segler sie jedoch fast ausschließlich in einem kleinen Kabuff unter Deck. Es hat eine Pritsche zum Schlafen, eine Sitz- und Kochgelegenheit, Instrumente, Rechner und Bildschirme. Während ältere Imoca 60 Boote hinter dem Unterschlupf noch ein halbwegs spritzwassergeschütztes Cockpit draußen haben, sind die neuen Boote weitgehend überdacht. Der deutsche Teilnehmer Boris Hermann beispielsweise segelt die Regatta im Schutz eines oft überspülten, hinten offenen Unterstands. Einzig bei leichtem Wind und entsprechend ruhiger Fahrt kann er unbehelligt von Spritzwasser an Deck gehen. Bei mittlerer Brise wird es naß. Bei voller Fahrt wäscht das Meer regelmäßig mit einem Schwall massiven Wassers über das Boot.

Marinisierte Mechatronik

Gesteuert wird nicht vom Segler selbst. Diesen Job übernimmt ein Autopilot – und zwar praktisch die gesamte Strecke von Les Sables-d’Olonne bis Les Sables-d’Olonne. Von diesem Hochleistungs-Segelautomaten wird der Segler um die Welt gelenkt. Er macht das besser, als es der Segler selbst könnte. Denn der Autopilot ist nicht nur Tag und Nacht im Einsatz. Er ist bestens vernetzt und immer wach.

Der Mechanismus eines Autopiloten ist einfach. Ein seitlich an der Ruderwelle angebrachter Hebel wird vom Schubgestänge des Autopiloten bewegt. Boris Hermanns „Seaexplorer“ ist mit einem elektrischen Autopiloten unterwegs, wobei ein zweiter als Backup zum Umschalten bei einer Störung bereits eingebaut ist und sofort aktiviert werden kann. Ein Ruderlagengeber informiert über den aktuellen Winkel des Ruders. Etwas komplizierter ist, wie die Kurskorrekturen zustande kommen. Der Rechner des Autopiloten wird mit Daten aus vielen Bereichen des Bootes gefüttert, beispielsweise dem eingestellten Kurs. Früher wurde dieser mit einem sogenannten Fluxgate Magnetometer bestimmt, der für heutige Anwendungen jedoch zu ungenau ist. Heute übernimmt das die Interferometrische Glasfaser-Gyro-Technologie (IFOG), kurz Faserkreisel genannt. Er enthält keine beweglichen Teile oder Verschleißteile und mißt Bewegungen und Richtungsänderungen mit enormer Geschwindigkeit und Präzison bei Grand Prix Regattabooten, der Marine, der kommerziellen Schifffahrt oder selbstlenkenden Waffen. Die kleine „Quadrans“ genannte Box ist wartungsfrei, nach IP 66 spritzwassergeschützt und wiegt keine 3 kg.

Die Windmeßanlage informiert über die Windrichtung und -stärke. Der Wind wird zugunsten brauchbarer Messwerte am Ende einer deutlich über oder vor das Top ragenden Stange gemessen, wo es weniger Wirbel gibt. Der lange Hebelarm, Vibrationen und bis zur Mastspitze gelangende Schläge der hart gesegelten Boote macht den Gebern zu schaffen. Da sich der Solo-Segelmarathon um die Welt ohne Windmeßanlage nicht erfolgreich absolvieren läßt, haben bereits mehrere Segler die Sensoren 30 m über dem Meer ersetzt.

Denn die größte Geschwindigkeit wird anhand des Kurses passend zur Windrichtung erreicht, auf den die Segel eingestellt sind. Der Automat steuert anhand eines vorab eingestellten Windwinkels. Da das Präzisonsinstrument infolge der rasanten Bewegungen des Bootes im Seegang aber auch permanente Windrichtungsänderungen an der Mastspitze mißt, werden die Schiffsbewegungen herausgefiltert. Fährt das Boot beispielsweise mit dem Bug einen Wellenberg hinab, schwingt die Mastspitze nach vorne und der Windeinfallswinkel wird entsprechend spitz. Übernähme der Autopilot nun diese Informationen ungefiltert, würde der Kurs ständig geändert. Der zentrale Bordrechner des französischen Spezialisten Madintec beispielsweise gleicht die Winddaten mit den Bewegungen des Bootes per Beschleunigungs-, Dreh- und Gierratensensorik in einem zentralen Rechner ab und wandelt die Datenflut von 100 Herz (d.h. 100 x pro Sekunde) in 50 Herz Steuerbefehle für den Autopiloten.

Last-Geber füttern den Bordrechner des Bootes ständig mit Daten aus den Segeln, Takelage, dem Rumpf und Foils. Denn die größte Herausforderung der Vendée Globe ist es überhaupt anzukommen. Während früher überwiegend Gefühl, Tagesform, Müdigkeit und Stimmungen entschieden, was dem Boot und der Takelage an Schräglage, Geschwindigkeit und Schlägen infolge des Seegangs zumutbar ist, treffen bei modernen Vendée Globe Booten Beschleunigungs- und Belastungsmesser diese Entscheidung. Boris Hermann berichtet von jeweils 15 Meßpunkten jeweils in den seitlichen Tragflächen seiner „Seaexplorer“. Lästige Piepstöne, wie man sie aus dem Krankenhaus kennt, warnen und wecken den Segler – sei es um die Segelfläche anzupassen, oder mit etwas eingezogener Tragfläche Druck aus dem Boot zu nehmen. Neulich wurde Boris Hermann bei einem plötzlichen 38 Knoten Sprint gewarnt.

Der sogenannte „Beast Mode“ des Autopiloten hält das Boot mit flinken Kurskorrekturen bei geringstmöglich bremsendem Wasserkontakt auf der Tragfläche und damit auf Spitzengeschwindigkeit. Bei hohen, für normale Freizeitsegler unerreichbaren Geschwindigkeiten von teilweise 30 Knoten und mehr profitieren Boot und Autopilot vom erwähnten Datendurchsatz. Der schnellstmögliche Kurs wird anhand des Kränungswinkels des Bootes eingestellt. Ein moderner Imoca 60 wird idealerweise mit maximal aufrichtendem Moment in einem möglichst konstant gehaltenen Winkel auf der leewärtigen Tragfläche gesegelt. Dafür gibt es einen speziellen Algorithmus. Den haben Spezialisten für die Vendée Globe Teams selbst geschrieben. Madintec aus La Rochelle ist als Entwickler für die französisch dominierte Szene des Hochsee Regattasegelns und regelmäßig unterbotender Rekorde mit riesigen, neuerdings foilenden Dreirümpfern da schon länger im Thema. Die Steuerung des Autopiloten im kompletten Hochsee-Tieffug mit den derzeit bei den Imocoa 60 Booten noch nicht zugelassenen Tragflächen auch am Ruder ist bereits startklar. Noch ziehen die Boote die Heckpartie ihrer Rümpfe durch das Wasser.

Ergänzend zu einem besonders schnellen GPS mit zehn- statt zweifacher Datenrate pro Sekunde wird die Geschwindigkeit durch‘s Wasser mit einem kleinen Paddelrad gemessen, wie es heute jedes Freizeitboot im Rumpf stecken hat. Seit die modernen Vendée Globe Boote mittschiffs im Tiefflug segeln, sitzt der Impeller des Loggengebers ganz unten im 4,50 m tiefen Kiel.

Faseroptische Belastungsmessungen in Bauteilen aus Verbundwerkstoffen sind beispielsweise in den Flügeln von Windenergieanlagen oder im Yachtbau bei großen Schiffen oder Regattabooten seit einer Weile üblich. Dort, wo große dynamische Lasten zustande kommen und die Beanspruchung sicherheitshalber zu drosseln ist. An Bord von Boris Hermanns „Seaexplorer“ beispielweise wird die Beanspruchung der Takelage mit sogenannten Ring Pins anhand Verformung der Bolzen an zentralen Punkten gemessen. Die Daten stehen dem Vendée Globe Segler auf dem Bildschirm zur Verfügung, und dem Autopiloten für Kursänderungen, wenn es zu heftig wird.

Seit einem Jahrzent beschäftigt sich Pixel sur Mer in Lorient mit nautischer Mechatronik, Navigationsinstrumenten und fiberoptischen Sensoren. Zur Belastungsmessung in Faserverbundteilen wird Laser durch 250 Mikrometer dünne Glasfaserfäden geschickt, die in die Tragflächen, in den Mast oder beispielweise das Deck einlaminiert sind. 1 µm entspricht einem tausendstel Millimeter. Ein Menschenhaar ist 100 µm dick. Mehrere, in ein Foil einlaminierte Meßpunkte entlang eines solchen Glasfaserfadens geben anhand der geänderten Lichtfrequenz per sogenannter Faser-Bragg-Gitter Auskunft über die Verformung und damit Beanspruchung eines Bauteils. Die Franzosen haben die Technologie des amerikanischen Herstellers Luna Innovations marinisiert, eines Spezialisten für die fiberoptische Messung von Deformationen, Temperaturschwankungen, Beschleunigung oder Gewicht. Fiberoptische Beschleunigungsmesser werden an Staudämmen oder Brücken, in der Energiegewinnung bei Windmühlen und Plattformen zur Öl- und Gasgewinnung montiert. Damit lassen sich Erdbeben noch in 3000 km Entfernung messen.

1956 begannen Major R. N. Gatehouse und sein englischer Kompagnon Ronald Brookes mit einem Funkpeiler, führten in den Sechzigerjahren moderne Instrumente zur Geschwindigkeitsmessung, in den Achtzigern den Computer ins Regattasegeln ein. Heute bietet Brookes & Gatehouse mit der H 5000-Serie eine prozessorgesteuerte Instrumenten- und Autopilotfamilie. Darauf wurde für Grand Prix Anwendungen wie das Vendée Globe das sogenannte Expert System aufgepfropft. Es reagiert nicht allein wie ein erfahrener Segler auf Windänderungen, es lernt auch dazu. Etwa wenn das Boot nach Verlassen des Wassers im Flugmodus beschleunigt und der Fahrwind entsprechend zunimmt. Der spitzere Windwinkel verlangt eine blitzschnelle Kursänderung, um das Boot in der Luft zu halten.

Samantaha Davies von “Initiatives Cour” schwärmt von der Präzision ihres Autopiloten. „Er segelt schneller als ich das Boot steuern kann. Außerdem kannst Du beim heute gesegelten Tempo keine zehn Minuten draußen sein, ohne von einem Schwall Meerwasser erwischt zu werden.“ Der Vendee Globe Segler ist unter Deck besser aufgehoben, wo er den Kurs durch die Hoch- und Tiefdruckgebiete festlegt, die Besegelung anpasst, die Technik instandhält und die nächste Reparatur vorbereitet.

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