Die Flensburger Rumregatta

Es gibt verschiedene Gründe, nicht so recht einverstanden zu sein mit der Welt, wie sie gerade ist und wohin das Leben derzeit entwickelt wird. Wofür plötzlich Geld da ist, während es für dringende, nahe liegende Zwecke angeblich keins gibt. Auch den soviel Leben verzehrenden Kreislauf des zunehmend erschwerten Geldbeschaffens und rasant erleichterten -ausgebens, der kein Entrinnen zu kennen scheint, finden wir blöd.

Eine kurzweilige Ablenkung von diesem Alltag ist das vorübergehende Eintauchen in irgendeine Freizeit- und Erlebniswelt wie den maritimen Jahrmarkt an der Schiffbrücke der Flensburger Rumregatta, oder deren serieller Genuss als konsequent gelebte Flucht in eine zweite Identität, etwa die des Seebärs. Gern wird eine von Gestern genommen. Das Museale, die romantisierte gute alte Zeit, das Idyll in Sepia erfüllt die Sehnsucht nach dem Langsamen, sicht- und greifbar Verständlichen, nach einer Art verloren gegangener Verlässlichkeit. Wir kennen diese im warmen Licht der Nachmittags- und Feierabendstunden erzählte Wohlfühlwelt aus der Bierreklame oder Werbung für Hochprozentiges.

Ganz im Norden Schleswig-Holsteins, fast schon in Dänemark, wo das Grün und das Draußenleben geographisch bedingt etwas später möglich ist, werden die schönen Monate mit der Rumregatta begrüßt. Dann versammeln sich in Flensburg die Schiffer traditioneller Arbeitsboote, der Colin Archer, der Gaffelkutter und Galeassen, der Besan-, Gemüse-, und Seeewer, der Krabben-, Finkenwerder-, Gaffel-, oder Haikutter, der Logger, der Spitzgatter und Steinfischer oder Zollkreuzer.

Die Holländer kommen mit Plattbodenschiffen unterschiedlicher Machart. Ein Bootstyp heißt Schokker. Den dazugehörigen Anspruch lösen die klobigen Kähne mit Seitenschwertern im ringsum geschützten Gewässer der Flensburger Förde meist mit niederländischer Effizienz ein. Die Dänen bringen ihre Bornholmer Lachsboote, Jagten, Smakken, all ihre små og store både mit, manchmal kommen sie auch mit einem nachgemachten Wikingerschiff. Sonderliche, wohlklingende Laute von sich gebend, schlurfen die prototypischen low profile Nautiker am Freitagabend vor der Rumregatta mit ihren Holzschuhen bedächtig und dermaßen antriebsarm über die Bohlen, dass sie auf dem Wasser nicht ernst genommen werden. Ein ganz schwerer Fehler.

Die Rumregatta ist ein kerniger Konvent krumm gewachsener oder dampfgebogener Eiche unter gerade gewachsener Kiefer für Masten, Rahen, Gaffeln, Bugspriets und Klüverbäume, leicht gekrümmter Papageienstöcke sowie Ruderpinnen und dazu gehöriger, unterschiedlich gerader Menschen mit einem selten anzutreffenden, sympathisch speziellen Eigensinn. Sie sind nicht einverstanden mit der Entwicklung der maritimen Welt, der ganzen modernen Plaste aus Glasfaser verstärktem Polyesterharz. Solche Boote riechen nicht nach Firnis, Teer oder Leinöl. Da schwappt kein Mix aus brackiger Ostsee und allem möglichem, was in einem anständigen Kutter so Richtung Kiel tropft, zwischen den Eichenbohlen der Bilge.

Traditionsschiffer haben eher Zeit als Geld, was sehr gesund sein kann. Es sind meist Pudelmützenträger, oft bärtig, gern mit einer Pfeife unterwegs. Hier gibt es noch richtige Langhaarige und andere, die eher zu Bootsausrüstern wie Dauelsberg oder Toplicht als zum Friseur gehen, also nie. Arne Kraft aus Rieseby an der Schlei beispielsweise wird nachgesagt, ab März barfüßig in die Segelsaison einzusteigen und unwillig im Herbst, wenn es doch etwas kalt wird, wieder Schuhe anzuziehen. Das spart, langfristig gesehen, eine erkleckliche Summe, die im Boot besser angelegt ist.

 Mit einem Pullover ist man bei dem wechselhaften Wetter an der Küste generell passabel angezogen. Damit lässt sich ein Ölwechsel machen, die Kogge auspumpen oder Bier holen. Wenn es unbedingt sein muss, kann man den Pulli auch waschen.

Bei Regen schützt ein bewährter Südwester das Haupt, Stirn und vor allem den Nacken. Dazu steigt man in dieses original unpraktische Fischerölzeug, in dem man bei entsprechender Statur rasch für eine Kugelbake oder signalrot angemalte Backbord Boje gehalten wird. Man stinkt bei körperlicher Betätigung sofort wie vier Ferkel, doch geht man darin selten verloren. Auch kann es nach mehrjährigem Gebrauch einfach in der Kajüte abstellen.

Wer anlässlich der Flensburger Rumregatta in aktuellen Segelklamotten erscheint, outet sich sofort als „Yachtie“. Yachtsegler, das sind diese „feinen Pinkel“, die mit weißen Segeln unterwegs sind, den Lifestyle als Sport missverstehen, diesen unnötig bis verkniffen ernst nehmen und sich sowieso für was Besseres halten. Traditionsschiffer sind mit braunen Segeln unterwegs. Das hebt sich besser vom Horizont ab, wird bei Schietwetter weniger übersehen, ist nicht so schmutzempfindlich und kann das ganze Jahr auf dem Baum liegen bleiben.

Morgens vor der Regatta machten wir einen kleinen Spaziergang, zwecks heimlicher Katzenwäsche bei den Yachties drüben am anderen, westlichen Ufer und Lüftung des Kopfes. Hingerissen standen wir am Südzipfel der Förde. Die Sonne schien mit einer für Flensburg nicht direkt typischen Penetranz, wie eigentlich nur vom sizilianischen Syrakus bekannt. Wir starrten in den Mastenwald vor dem Gebäude des Schifffahrtsmuseums mit dem Gebälk des Hafenkrans von 1726. Das Grün der frisch bemaiten Bäume, die roten, hellblauen und dunklen Rümpfe vor dem Ocker und Weiß der Fassaden, die roten Schindeln – ach, es war schon schön. Wir vergaßen die meist etwas zugig unterkühlte Stadt mit zentralem Verkehrssünderregister, deren etwas spezieller Versandhandel schon besser ging, dem die Marine und Motorola abhandengekommen ist, wo jetzt auch bei Danfoss zur Säge gegriffen wird, das so genannte Minuswachstum wohl nicht aufzuhalten ist.

Früher, als die Schiffe eindeutig charaktervoller waren, wurde an der Schiffbrücke Hering, Zucker oder Tran von grönländischen Walen an Land gehoben. Plietsche Flensburger handelten nicht nur mit dem Norden, ihre Verbindungen langten bis ins Mittelmeer oder die Karibik. Im 18. Jahrhundert gedieh das Geschäft mit Hochprozentigem. Rohrzucker aus Dänisch-Westindien und später aus Jamaika wurde am Südzipfel der Förde zunächst raffiniert und später clever verschnitten. So brachte es Flensburg zu mehr als zwanzig Rummarken wie beispielsweise Asmussen, Detleffsen, Hansen, Pott oder Sonnberg. Zwar ist das alles im Sepia der Geschichte verblasst, doch gibt es ja die Rumregatta.

Schlag elf schob die „Willow Wren“ ihre 50 Tonnen in strategisch günstiger Position über die Startlinie draußen vor der Marineschule Mürwik. Es war die 25. Rumregatta von Ulrich Rössner. Als alter Hase hatte er die schnittig schwarze 30 Meter Antiquität mit Motorhilfe so lange an der Startlinie gehalten, bis er mit hart gelegtem Ruder ins Renngeschehen einstieg. Das hatten wir so noch nicht gesehen. Nicht ganz so kaltblütig war die Besegelung. Mit Flieger, Toppsegel und dem Besan blieben trotz des meist moderaten, in Böen frischen Nordwestwinds 80 Quadratmeter eingepackt. Dennoch lief die „Willow Wren“ mit siebzig Prozent ihrer möglichen Besegelung ganz gut. Der diskret im Steuerhaus vor der langen Pinne eingebaute Kartenplotter, so digitale Schiffselektronik mit Flachbildschirm ist irgendwie doch ganz sinnvoll, berichtete von manchmal – boah – acht Knoten. Die Entdeckung der Gemächlichkeit. Wir schoben mit halbem bis achterlichem Wind zwischen den herrlich grünen Ufern die Förde hinaus. Mit so vielen Segeln und Seglern achteraus war das Gewässer das schönste Segelrevier Deutschlands, ach was, der ganzen Welt!

Dann kamen sie, diese an Land superschlurfigen Dänen und – noch schlimmer – die Tulpenzüchter mit ihren äußerlich klobigen Kuttern und plattbödigen Schokkern und zogen eiskalt mit schmutzig weißer Bugwelle vorbei. Wir konnten die bedächtigen Laute nebenan hören und, hätten wir hingeguckt, die hochzufriedenen Gesichter sehen. Es war furchtbar. Wir hatten keinen Blick mehr für die idyllischen Ochseninseln (in dänischem Besitz). Wir verbrachten die Zeit bis zur Boje 10, der Wendemarke der Rumregatta, mit tief schürfenden aero- und hydrodynamischen Erklärungen für diesen Skandal. Rössner hatte da einiges im Köcher. Ohne Gründe kommt kein Segler bei unerfreulichem Rennverlauf klar. Der Eigner behauptete steif und fest, er würde die Lumpen alle auf dem Kurs hart am Wind zurück nach Flensburg wieder hinter das Heck segeln. Außerdem müsste ja nur einer von den Übereifrigen vorne bleiben, weil bei der Rumregatta der erste traditionell „irgendeinen Scheiß“ kriegt, der kluge Zweite, also wir, dagegen die Buddel. Lieber Rum als Ruhm, wir müssten uns nur etwas bremsen.

Das richtete uns innerlich auf und die vier dümmsten und stärksten, zu denen wir uns angesichts der Bedeutung des Manövers gern zählten, legten an der Großschot in echtem statt simuliertem Teamwork mit dem Boss am Steuer eine derart saubere Halse hin, dass bei dem gefürchteten, Mensch und Material verschleißenden Manöver alles heil blieb und die Boje Alinghi-artig eng gerundet war. Dann kümmerten wir uns unterschiedlich erfolgreich um Dänen und Holländer.

Zwar wurden wir nach eigener Beobachtung in unserer Klasse, einer von 18 bei über hundert Schiffen, zweiter, doch ist die „Willow Wren“ streng genommen eine Yacht und „feine Pinkel“, das sind die mit weißen Segeln oder praktischen Klamotten, durften bei der diesjährigen Rum Regatta zwar bei den Braunseglern mitmischen, bei der amüsanten Preisverschleuderung aber bloß zugucken. Arved Fuchs von der „Dagmar Aaen“ kam mit einer Plüschrobbe als „Kalte Füße-Preis“ davon, die „Britta Leth“ kriegte eine Rattenfalle als „Frischfleischpreis“, wohl ein flensburgisch dezenter Hinweis auf eine gewisse Fluktuation in der Mannschaft, die „Anemor“ einen Schutzengell für das Glück im Unglück beim Mastbruch. Die Osterfjord wurde separat für ihre Langsamkeit mit einer ausgestopften Schildkröte prämiert. Man soll selbst eine insgesamt gemächliche Veranstaltung wie die Rumregatta, bei der wir gerade mal zwei Stunden segelten, schon auch etwas ernst nehmen, allein schon wegen der Preise, wenn es denn welche gibt.

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