Der Kap Hornier

Altes Gebälk voller faszinierender Geschichte. Aus 120 Tonnen deutscher Eiche wurde einst der Lotsenschoner „No. 5 Elbe“. Als „Wanderbird“ war er in der Welt unterwegs. Neuerdings segelt er wieder ab Hamburg.

„Es gibt viele Arten zugrunde zu gehen. Die weitestverbreitete ist die sogenannte Normalität“ bemerkte der Journalist Jörg Magenau einmal. Nun, ein fades Dasein zwischen Ein- und Auskommen, eine zwischen Arbeit und Freizeit dahinschlummernde Durchschnittsexistenz hatte der amerikanische Meeresvagabund Warwick M. Tompkins nicht. Als er in den 20er Jahren in Paris einer hübschen jungen Texanerin begegnet, ist er nach einem abenteuerlichen Kurs durchs Leben eher zufällig mit seiner Schreibmaschine in der Metropole gestrandet. Als Berufsseemann, Segler und Journalist hatte er auf unterschiedlich seetüchtigen Frachtschiffen und Rennyachten auf dem Pazifik und Atlantik alles außer Langeweile gehabt. Anlässlich der Begegnung mit der Frau seines Lebens könnte Tompkins seine amphibische Existenz jetzt an Land verlegen.

Als er mit Gwen Bohning rasch den sogenannten Ehehafen ansteuert, könnte der Weltenbummler die wilden Jahre an den Nagel hängen, das Leben eine Idee geregelter und seriöser nehmen. Doch ist Tompkins für die übliche Landlebenslaufbahn, wie sie die Menschheit überwiegend praktiziert, nicht so geeignet. Er ist aus der Weite des Meeres nach Paris gekommen, von draußen, wo der Ozean mit langer Amplitude auf seine Weise atmet, dem Besucher seine eigenen Gesetzmäßigkeiten aufzwingt, Demut lehrt und die „Vexationen des Landlebens“, wie Stefan Zweig die alltägliche Bürde der Zivilisation einmal genannt hat, vergessen lässt.

Kap Hoorn statt Paris

Tompkins muss wieder an die frische Luft, seine Normalität leben. Nur soll es nicht mehr an Bord anderer Eigner Schiffe sein. Er ist reif für die eigene Arche. Damit möchte er selten gesegelte Kurse jenseits des absehbaren Abenteuers nehmen. Er will Gewässer ansteuern, die mit Angstlust und Ausdauer, mit Geschick und einer Portion Glück zu meistern sind. Denn Tompkins ist kein Vollkasko versicherter Warmduscher. Er träumt von der klassisch schweren Route von Ost nach West, gegen Meeresströmung, Wind und Wetter um Kap Hoorn. Dieses Vorhaben hat sich im Lauf der vergangenen Jahre bei ihm eingenistet.

Dazu braucht er die passende Gefährtin. Um Kap Hoorn segelt damals niemand, der es nicht muss. Das Verschwinden in der kalten Wasserwüste des Südpolarmeeres, das Zerschellen von Hab und Gut in der Brandung patagonischer Klippen ist so wahrscheinlich wie das Gelingen der Reise. Außerdem braucht Tompkins ein bewährtes, für die monatelange Autarkie auf dem Meer geeignetes Schiff. Der erfahrene Segler weiß, dass es ein Lotsenversetzer sein muss. Denn so ein Gefährt ist dazu gebaut, sommers wie winters bei Wind und Wetter auf See auszuharren, ankommenden Schiffen revierkundige Lotsen an Bord zu geben und die Kollegen von auslaufenden Schiffen an Bord zu nehmen.

Es gibt da nur ein Problem. Das Leben an Land kostet und außer bescheidenen Einkünften als „Newspaperman“ verfügt Tompkins über 1.500 Dollar. Immerhin gibt es dafür im Deutschen Reich eine Menge Schiff. Das Geld reicht soeben, um die „Wandervogel“, einen seit Jahren im Hamburger Hafen stillgelegten, vom Regen, Ruß und Schnee verdreckten Lotsenschoner 1928, im Jahr der Heirat, zu kaufen. Damit gründet das Ehepaar eine gemeinsame Meeresvagabundenexistenz. Das 43 Jahre alte Schiff ist seit einer Weile aus dem Dienst vor der Elbmündung ausgemustert. Es ist wechselnden Eignern, darunter den Wandervögeln, in der wirtschaftlich schwierigen Großwetterlage der Weimarer Republik nicht gelungen, die gut 120 Tonnen deutsche Eiche wie gedacht für neue, eigene Ziele flott zu machen.

Rasch ist „Wander Bird“ mit geliehenem Geld hergerichtet, wird im Lauf der 30er Jahre mit einem Dutzend Atlantiküberquerungen, einem Segeltörn durch die Ostsee und einer Mittelmeerkreuzfahrt mit zahlenden Gästen für den kühnen Trip ausprobiert.

Tompkins ist clever genug, seine Frau mit vergleichsweise angenehmen Reisen an die Eignernordwand des Segelns, heranzuführen. Der einstige Lotsenversetzer eignet sich als Familienarche mit seinem Dutzend Kojen, die in schrankähnlichen Schwalbennestern rings um den Salon als Etagenbetten angeordnet sind, bestens für die mehrköpfige Besatzung und zahlende Gäste. Tompkins lässt den vierschrötigen Arbeitssegler, wie er ist. Einzig eine Dusche und ein Steuerrad anstelle der archaischen Pinne werden eingebaut. Soviel Komfort muss sein. Einen Hilfsmotor zum Vorankommen bei Flaute, zur Ansteuerung von Strömungen durchspülter Gewässer, enger Buchten und unübersichtlicher Häfen hat die „Wander Bird“ nicht. Dafür gibt es Augenmaß, Geduld, Erfahrung, den siebten Sinn des Kapitäns und nicht zuletzt den Anker.

Bald stellt sich mit Ann und Warwick M. Tompkins junior Nachwuchs ein. Die Kinder werden auf See groß, lernen an Deck nicht nur laufen und den Umgang mit Tauwerk. Sie turnen auch beeindruckend sicher in der Takelage, lernen Tompkins Normalität. Ein Schiff kann ein sicherer Abenteuerspielplatz sein. Seinen Stammhalter nennt Tompkins mit augenzwinkerndem Stolz „Commodore“.

Im Frühsommer 1936 sind die „Wander Bird“ und die Familie Tompkins so weit: Die sechsjährige Ann hat den Atlantik Acht mal an Bord der Familienarche überquert, ihr vierjähriger Bruder Sechs mal. Der einstige Lotsenversetzer „No 5 Elbe“ ist ausprobiert und eigentlich sind alle im Thema. Allein, die Ehefrau „mochte die Idee der Kap Horn Umsegelung nicht. Nach vielen Tausend Meilen an Bord sehnte sie sich nach Gewässern mit wenig Wellengang und sanfter Brise. Aber die Aussicht, sich bis ans Ende unserer Tage mein Seemannsgarn von Kap Hoorn anhören zu müssen, nicht zuletzt die Möglichkeit, unterwegs auf das häusliche Silber und Porzellan aufzupassen, bewog sie wohl dazu, mitzukommen“ fasst Tompkins ihre Motive salopp in seinem Buch „Fifty South to Fifty South“, der 1938 veröffentlichten „Story of a voyage west around Cape Horn in the schooner Wander Bird“ zusammen. Außerdem hat das fürchterliche Kap den Vorteil, dass es nach der Schinderei in jeder Hinsicht besser wird, weil es jenseits des südamerikanischen Steiß bekanntlich eine echte Südsee gibt und man ziemlich unbehelligt bei versöhnlichen Bedingungen nach Kalifornien segeln kann.

Projekt 50 South

Am 26. Juni 36 geht es in Gloucester an der amerikanischen Ostküste mit zahlenden Gästen los. Ab Tanger zeigt der stämmig senkrechte Bug dann südwärts. Nach einem kurzen Stop in Rio de Janeiro werden die gefürchteten, wetterwendischen hohen Breitengrade des Südens angesteuert. Der 50. Grad südlicher Breite befindet sich etwa eine Segeltagesreise vor den Falkland Inseln. Dort beginnt das Projekt „50 South“ diesseits Südamerikas bis jenseits des Kontinents. Aus den tausend Meilen der theoretischen, kürzesten Route werden über zwei Tausend, ein Kurs im Zickzack durch Stürme und Winddrehungen. Die „Wander Bird“ kreuzt weit über das in Sichtweite umsegelte Kap hinaus in den Süden und droht schließlich am nordwestlichen Ausgang der Magellan Straße mit einer kaltblütig landnah gesegelten Route zu scheitern. Kaltblütig navigiert Tompkins die Familienarche durch das Katz und Maus Spiel ständig wechselnden Wetters. Im Unterschied zu den Rahseglern der soeben ausgeklungenen Ära der kommerziellen Segelschifffahrt geht die „Wander Bird“ passabel an den Wind und das bärenstarke Gebälk macht seinem Ruf als deutsche Wertarbeit alle Ehre. In Kenntnis der Verhältnisse in der deutschen Bucht hatte die Hamburgische Deputation für Handel und Schifffahrt bei der Bestellung des Lotsenschoners „No. 5 Elbe“ die Stülcken Werft in Hamburg-Steinwerder ausdrücklich um eine solide Bauausführung gebeten. Die bewährt sich jetzt erneut.

Kühn ringt Tompkins, er bezeichnet sich in der Reisebeschreibung sympathisch zurückhaltend als „The old man“, mit einem beinhart gesegelten steuerbord Bug der exponierten Küste Meile für Meile Nordwest ab. Gesegelt wird anhand gekoppelter (also geschätzter) Kurse. Mit Geschick und Glück lassen sich die Positionen per Sextantnavigation überprüfen. Hier gibt es wenig Spielraum für nautische Fehler oder Materialermüdung. Was auf die „Wander Bird“ zukommt, erfahren Schiffer und Besatzung nicht anhand einer heute üblichen Wetterkarte samt elektronisch übermittelter Routenberatung. Aufschluss bieten der Blick unter die Wolken und die Kurve des Luftdruckschreibers (Barograph). Der Bericht über die kühne Reise, er ist in einem Reprint der englischsprachigen Erstausgabe von 1938 nachzulesen, liest sich wie ein Krimi. Abgesehen von einem gebrochenen Klüverbaum passiert nichts.

Dennoch endet die Reise für Tompkins mit einer großen Enttäuschung, der Enttäuschung nach vielen Monaten in San Francisco „with sadness“ an Land gehen zu müssen. Später legt die Familienarche noch mal zu einer großen Reise ab, einer Odyssee durch den Pazifik. Dann trennen sich die Lebenswege von Gwen und Warwick Tompkins. Das Glück der beiden hatte mit der kühnen Umseglung Südamerikas seinen Zenit überschritten.

Die Familienarche wird zum schwimmenden Hafeninventar. Ein Zustand, der für altes Gebälk beinahe so gefährlich ist, wie der Dienst in der Deutschen Bucht oder die Umsegelung Kap Hoorns. Ende des 20. Jahrhunderts wird Joachim Kaiser, der Hamburger Schiffshistoriker und clevere Strippenzieher für den Erhalt alten Gebälks auf die “Wander Bird“ aufmerksam, 2002 gelingt der Kauf durch die Stiftung Hamburg Maritim. Das vom Beschäftigungsträger “Jugend in Arbeit“ in einer Harburger Ausbildungsstätte und Werft verdienstvoll sanierte Gebälk wird zur segelnden Antiquität und Schmuckstück des neuen Traditionsschiffhafens der Hamburger Speicherstadt. Seit der behutsamen Wiederherstellung unter musealen Gesichtspunkten mit kleinen Zugeständnissen hinsichtlich Handhabung und Sicherheit, ist die Hamburgensie in den Händen eines engagierten Betreibervereins auf der Elbe, Ost- und Nordsee unterwegs. Ab und zu sieht eine betagte, eigens aus den Staaten angereiste Dame mal in Hamburg nach dem rechten: Es ist Ann Tompkins, jenes kleine Mädchen, die auf dem Atlantik und während der kühnen Kap Hoorn Umseglung auf der „Wander Bird“ laufen lernte und die Normalität ihrer Eltern lebte.

Zur Artikelübersicht