Dann eben mit der Kreissäge

Der Wechsel vom Berufsleben in den Ruhestand ist keine einfache Sache. Der Schritt mag nach jahrzehntelanger Arbeit lange ersehnt sein. Schwupp, ist man verabschiedet, nicht mehr gefragt. Plötzlich gibt es endlos Zeit.

Und nun? Also, der Rentner kann morgens die Zeitung und die Wecken holen, der Frau ein paar Takte vorlesen. Er kann ihr mit längst bekannten Ansichten und Anekdoten auf den Geist gehen, noch mal Kaffee nachschenken. Er kann zum Einkaufen mitkommen und so tun, als ob es ihm bei dieser Art des Zeitvertreibs blendend ginge.

Der Tatendrang von Deflef Huss

Das wäre für den siebenundsechzigjährigen Schweriner Detlef Huss kaum die Kür des Pensionärslebens. Dazu ist er zu aktiv und auch mitteilsam. „Ich habe in der DDR damals eine Ausbildung zum Elektromotorenbauer gemacht und war als Fertigungstechnologe Mädchen für alles, habe eine Weile in der Drahtherstellung gearbeitet, konnte mit Kupfer und Aluminium umgehen und war in der Spritzgießerei tätig“, berichtet Huss. „Ich konnte mich handwerklich aber selbst nie verwirklichen.“ Die Wiedervereinigung schuf mit direkt erhältlichen, international üblichen Bootsbauprodukten und den überall errichteten Baumärkten einen Teil der Voraussetzungen.

Jetzt musste Huss nur noch Zeit zum Ausschöpfen seines handwerklichen Potentials finden. Die kam 2006 mit seiner Pensionierung. Zwar holte Huss morgens auch mal die Zeitung und die Wecken, doch sein eigentliches Projekt war die „Dufte Wanne“. So hieß der sechs Meter lange Jollenkreuzer, den er im Dezember auf einem Anhänger zuhause vors Garagentor schob.

Mit gezielten Axthieben und geschickt angesetzter Säge füllte Huss seinen Bootsbauer-Ruhestand. Sein Projekt: die Verwandlung der eigentlich ganz hübschen, aber frevelhaft zur segelnden Wasserdatsche umgebauten Schweriner Einheitsjolle von anno 1922. „Meine Sportsfreunde im Segelclub waren entsetzt. Alle fanden die formschön gerundete Kajüte gelungen. Viele Jollen sind ja damals bei uns im Osten zu solchen Familienkutschen umgebaut worden.“ Aber Huss wollte zurück zu den Ursprüngen, das Boot zu einem seltenen Exemplar jener heimattypischen Jolle zurückbauen, wie 1921 von Konstrukteur Reinhard Drewitz im Auftrag des Schweriner Segler-Vereins als Boot für kleine Leute entworfen.

„Als ich mit der kleinen Stichsäge nicht vorankam, habe ich mit der Kreissäge und einem Videablatt weitergemacht. Das kann Nägel oder Schrauben ab.“ Der Unruheständler entfernte das Deck, erneuerte die Decksbalken nebst Winkeln (Knien) zur Bordwand und „schliff die gesamte Glasfaserbeschichtung bis auf das blanke Holz vom Rumpf herunter, was bei einem stufigen Rumpf in Klinkerbauweise keine leichte Sache ist. Da hatte ich zwischendurch mal die Schnauze voll.“

Immerhin musste Huss in den Pausen daheim nicht mit Wecken, Zeitung und Kaffee herumsitzen. Er hatte sich nämlich einige Jahre zuvor mit der „Sindbad“ schon mal den gleichen Bootstyp zugelegt. Auch die war unten herum „überplastiziert“, wie die Ostdeutschen die Glasfaserbeschichtung nennen, aber oben herum offen geblieben. Dieses Boot segelte Huss einfach weiter, und diese Freizeitbeschäftigung hält die Mundwinkel oben.

Der Tausch der Nieten zur Verbindung von Planken und Spanten, die Sanierung des Stevens und die Erneuerung einiger Planken im Bereich der Wasserlinie, wo ein Holzboot am meisten durch Wellen und Fäulnis beansprucht ist, machte als traditionelles Bootsbauerhandwerk wieder Spaß. Was immer er selbst machen konnte, richtete Huss selbst. Bei kniffeligen Sachen fragte er Profis. Mast, Baum und die Gaffel beispielsweise tischlerte ein ehemaliger Kollege, der Treppenbauer Thomas Fahrenson aus Parchim, aus Kiefer. Als Muster diente die Takelage der „Sindbad“. Auch die Eiche für die Decksbalken und die Bodenbretter, das Mahagoni für den obersten Plankengang und das Deck wurden von Fahrenson so passend getischlert, „dass ich die Teile rasch montieren konnte“.

Und weil bei der Instandsetzung einer segelnden Antiquität halbe Sachen auf Dauer betrüblich sind, wurde sogar mancher Beschlag der „Sindbad“ nachgegossen. Dafür gewann Huss den Wismarer Kirchenrestaurator und Gelbgießer Ralf Freese. „Das Schöne an so einem Projekt ist ja nicht nur die Werkelei. Man bekommt neben Zuspruch auch wunderbare Unterstützung aus ganz unerwarteten Ecken. Da wurde bei den Stunden auch mal ein Auge zugedrückt.“ Schildermacher Gunske aus Parchim half mit den Bronzestreifen als Unterlagen für die Beschläge. Die Bleche verhindern, dass das Deck verkratzt. Huss berichtet von einer Hilfsbereitschaft, ohne die einst in DDR-Zeiten nichts lief, ohne die der Segelsport als gelebte Freiheit vom verordneten Sozialismus nicht denkbar war.

Beim heißersehnten Probeschlag im Herbst vorigen Jahres hielt Huss die oben vom Baum kommende Großschot in einer unbequemen und seit Jahrzehnten unüblichen Haltung in der Hand. Es gibt weder eine Umlenkrolle im Plichtboden noch eine Belegemöglichkeit. Vorschoter Peter Pfeifer, ein Bootsbauer, der beim Plankenwechsel half, hielt die Fockschot in der Hand. „Da hat sich Bootskonstrukteur Drewitz natürlich damals was bei gedacht. Wer die Schoten in der Hand hält, lässt sie rechtzeitig los und kentert nicht.“

Um die vier Windstärken wehen aus Ost. Ein paar Zirren schmücken den blauen Himmel. Die knuffige Jolle schiebt von der Schwanen-Halbinsel am Großen Stein vorbei nach Kaninchenwerder durch den Schweriner See. Das Plätschern des geklinkerten Rumpfs erinnert an den Folkeboot-Sound. Mit seinen fülligen Linien ist das sechs Meter lange, 1,90 Meter breite Boot eigentlich ein kleines Dickschiff. Die leer 600 Kilo schwere Jolle ist ein behäbig-solider Gefährte. Die fülligen Linien bieten nicht nur Zusteige- und Zulademöglichkeiten für ein Segelwochenende oder den Sommerurlaub auf dem See. Drewitz hatte der 20-Quadratmeter-Wanderjolle reichlich Formstabilität mitgegeben. Da war das Ausreiten auf der hohen Kante nicht so entscheidend. Wichtiger beim Wasserwandern waren Bequemlichkeit und Sicherheit.

Überhaupt wird Komfort bei dieser Wanderjolle groß geschrieben. „Die kleinen Bänke achtern neben der Pinne, den Klappsitz weiter vorn und die beidseitig neben dem Schwertkasten einzusetzenden Duchten habe ich natürlich nachgebaut“, sagt Huss stolz. Auch der ursprüngliche Bootsname „Libelle“ kehrte zurück, ergänzt um den Vornamen von Enkelin Juna, die sich hoffentlich eines Tages für die Jolle vom Opa begeistert. Man kann wirklich für die „Libelle-Juna“ schwärmen, die köstlich krude Umständlichkeit des klobigen, verzinkten Großschotführungsbügels über der wünschelrutenförmigen Gabelpinne über die einzigen beiden Klampen zum Belegen der Backstagen bis hin zu den Holepunktösen für die Fock. Den ganzen in den siebziger Jahren entwickelten Klöterkram effizienten Jollensegelns gibt es auf „Libelle-Juna“ nicht.

Der eigentliche Clou aber sind die Segel aus Mako. Dieses nicht eben profiltreue, schwere und zu Stockflecken neigende Tuch wurde in den sechziger Jahren durch zweckmäßigeres Polyester ersetzt. Ägyptische Baumwolle brachte der Baseler Fabrikant, Autosammler, Häuserrestaurator und Gründer der englischen Werft Fairlie Restorations, Albert Obrist, Ende der achtziger Jahre aus Anlass der Generalüberholung des Schoners „Altaïr“ ins Gespräch. Mühsam wurde dem Nostalgiker diese unhandliche Ware ausgeredet. Es wurde stattdessen ein eigens an den Farbton leicht gealterten Makos angepasstes Polyestertuch genommen. Der Look hieß zunächst „Altaïr-Cream“ und wird heute zur Freude der Klassikerszene von mehreren Tuchherstellern und Segelmachern angeboten.

Für Baumwollsegel für „Altaïr“ fehlte damals das Tuch, geeignete Webstühle zur Herstellung von Mako standen allenfalls im Museum. Das war in den neuen Bundesländern anders. Nach Gesprächen mit mehreren Segelmachern wurde Huss schließlich bei Adolf Zenk in Grambin bei Ueckermünde fündig. Zenk hat als eingesessener Segelmacher die Tücher manchen Zeesboots angefertigt.

So konsequent, bis hin zum mit Leder bekleideten Mast und dieser nostalgischen Segelgarnitur treibt es praktisch kein Bootsrestaurateur. An der persönlichen Hingabe des Schweriners und der Detailtreue von „Libelle-Juna“ kann sich mancher Protagonist der Klassikerszene ein paar Scheiben abschneiden. Denn viele Boote werden heute eher gefühllos brutal modernisiert als restauriert, mit erschütternd unpassenden Geräteträgern aus Edelstahl beispielsweise.

Übrigens darf Huss die empfindlichen Makotücher nach einem feuchten Segeltag zuhause auf zwei Böcken im Wohnzimmer zum Trocknen ausbreiten. Ehefrau Christel sieht ein, dass Stockflecken unschön sind. Muss gut gehen, die Ehe. Das liegt auch daran, dass Huss seinen Rentnerblues nicht daheim am Küchentisch mit bekannten Döntjes, Wecken und Zeitungholen bearbeitet, sondern einem charmanten Boot, jeder Menge Werkzeug und „Sportsfreunden“, die den köstlichen Knall des gelernten Elektromotorenbauers mit Rat und Tat fördern.

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