Zweite Chance für Gipsy Moth IV
Englands Segelheld Sir Francis Chichester jagt 1967 seine „Gipsy Moth IV“ in Rekordzeit um die Welt. Danach verkümmert das Schiff im Museum. Jetzt ist es zurück in seinem Element. Porträt eines großen Mannes und seiner Yacht.
Segeln tut gut. Segeln verlängert das Leben. Welche andere Freizeitbeschäftigung und Lebensform gibt es, der diese Vorzüge nicht bloß nachgesagt werden, wo sie sogar bewiesen sind? Das größter Beispiel dafür ist die englische Hochseesegellegende Sir Francis Chichester (1901-1972).
Mit der berühmten 16 Meter Ketsch „Gipsy Moth IV“ segelte der Mittsechziger auf der Route der Wollklipper in Rekordzeit um die Welt. 36 Jahre stand sie als Museumsschiff neben der „Cutty Sark“ in Greenwich, von Millionen besichtigt. Mit panoramaverglastem Deckshaus, den dicken runden Radiatoren der Bordheizung, kardanischem Sessel, den Kressetöpfen, der Zapfstelle für das Whitbread Bier, der klobigen Kestrel Marconi Funkanlage und den musealen Brookes & Gatehouse Hecta, Harrier, Hengist und Horsa Instrumenten mit analogen Anzeigen über der backbordseitigen Lotsenkoje. Britannia ruled the waves. Chichester war genau der Richtige für das bröckelnde Selbstbewusstsein des Commonwealth. Es brauchte einen Helden a la Chichester. Der notorische Abenteuer wiederum genoss mehr noch als den ersegelten Adelstitel die Anerkennung – und die Möglichkeit, bis zu seinem Lebensende zu Segeln.
Jahrzehnte dem Besucheransturm, Wind und Wetter ausgesetzt, wurde das formverleimte Holzboot morsch. Die muffig riechende, heruntergekommene „Gipsy Moth IV“ war kein würdiges Ausstellungsstück mehr. Schiffe, die zu lange sachfremd an Land herumstehen, gehen kaputt. Abwracken war keine Lösung, ihre Rettung schon eher. So wechselte sie November 2004 für den symbolischen Preis von einem Pfund und einem Gin-Tonic den Besitzer und ist nach siebenmonatiger Instandsetzung als Ausbildungsschiff der United Kingdom Sailing Academy (UKSA) wieder in ihrem Element. Mit ihrem weißen Rumpf, dem vorn ausgekragten Vorsteven, den Mahagoniluken und neuen Segeln ist sie vermutlich schöner als bei ihrem ersten Stapellauf. Nun segelt sie zum zweiten Mal um die Welt. Allerdings mit mehrköpfiger Crew der United Kingdom Sailing Academy (UKSA) und auf sonnig-komfortabler Route.
Als Chichester 1960 beim Finale der ersten Einhand-Atlantik Regatta New York ansteuert, notiert er: „Jetzt verstehe ich, warum Menschen damals wie heute Zuflucht auf dem Meer suchen. Nach einem Monat allein mit sich und dem Meer ist man geläutert und versteht die echten Werte des Lebens.“ Einhand Langstreckenregattasegeln ist damals neues Terrain, ein Wagnis mit ungewissem Ausgang, für Chichester auch Meditation, reinigend wie ein Saunagang. Nach 40 Tagen, 12 Stunden und 30 Minuten quert er als erster die Ziellinie.
Zwei Jahre zuvor wurde dem Londoner Kartenverleger Francis Chichester Lungenkrebs diagnostiziert, er darüber aufgeklärt, dass er aus ärztlicher Sicht allenfalls weitere sechs Monate Leben würde und zu einer Operation geraten. Chichesters Frau Sheila lehnt den Eingriff ab. Sie nimmt ihren Mann aus dem Krankenhaus wieder mit nach Hause und pflegt ihn. Der waghalsige Flugpionier, Regattasegler und Tatmensch erholt sich in Südfrankreich mit der Planung eines neuen Projekts. Er träumt von Hochseeabenteuern jenseits des Ärmelkanals, Trips, die keiner zuvor so wagte. Bereits im Juni ’59 segelt als Navigator das Fastnet Rennen und setzt die Therapie mit seinem zweiten, eigentlichen Leben als Blauwassersegler fort, gewinnt ‘60 das erste Observer Singlehanded Transatlantic Race (Ostar) Rennen.
Die Zeit bis zur nächsten Regatta vertreibt er sich mit einer flotten Solopassage in die Staaten. 1964 erreicht Chichester anlässlich der zweiten Ostar Regatta sein persönliches Ziel, den Atlantik von Ost nach West in weniger als 30 Tagen zu queren. Er wird zweiter, nach Eric Tabarly. Der athletische 32-jährige Leutnant der französischen Marine ist halb so alt wie Chichester. „Pen Duick II“, das Boot des Franzosen ist eine federleichte 13,60 m Sperrholzketsch, gegenüber Chichesters klassisch eleganter 12 Meter Slup ein unerschrocken moderner Bootstyp. Dass ein bis dato unbekannter Gallier Chichester auf und davon segelt, macht das zweite Ostar Rennen für die Briten zum Debakel und für die Franzosen zur segelsportlichen Revanche der Grande Nation für die Anno 1805 verlorene Schlacht von Trafalgar. Chichester segelt auf eigenem Kiel zurück, wie gewohnt begleitet von Ehefrau Sheila und Sohn Giles. Sechs Mal hat der rüstige Hochseesegler jetzt den Atlantik auf eigenem Kiel bezwungen. Obwohl die vom Golfstrom und deftigen Tiefs bewegte atlantische Wasserwüste nicht gerade so überschaubar und sicher ist wie der von Chichester gern besuchte Teich des Kensington Park, wo er Modellsegelboote und deren Selbststeueranlagen beobachtet, kennt Chichester doch das Gewässer und dessen Herausforderung. Es wird Zeit für etwas neues, die Umsegelung Kap Hoorns. Sein Kartenverlag daheim geht eher schlecht als recht und frische Seeluft ist für den lungenkranken Senior allemal gesünder, als der Smog Londons. Außerdem möchte der Abenteurer seinen großen Traum auf dem Wasser verwirklichen, der dem passionierten Flieger in der Luft nicht möglich war, die Umrundung der Erde.
Das Bedürfnis nach Anerkennung durch weithin wahrgenommene Heldentaten und Erstleistungen ist dem 1901 geborenen Chichester in die Wiege gelegt. Er wächst in einem gleichgültig-desinteressierten Elternhaus auf, macht als Einzelgänger von sich reden und verlässt England bei der erstbesten Gelegenheit mit 18 Pfund in der Tasche. Chichester entscheidet sich für die Jagd nach jener Anerkennung, die ihm zuhause nicht gegönnt war, das Abenteuer. In seinem Elternhaus sind drei Lebenswege für ihn vorgesehen, entweder in der Armee, bei der Marine oder in der Kirche. Er schwört, frühestens mit Ersparnissen von 20.000 Pfund zurück zu kehren. Das ist damals eine stolze Summe. Die ersten neun Pfund verdient er sich im Kohlenbunker der „Bremen“ bereits während der Passage zum neuseeländischen Wellington. Chichester jobbt im Tagebau, als Goldsucher, Schafzüchter, Holzfäller, Zeitschriften- und Autoverkäufer oder Immobilienmakler. 1929, nach zehn Jahren hat er es so weit gebracht, dass er sich mal daheim in der englischen Grafschaft Devon blicken lassen kann. Der 28-jährige lernt fliegen, kauft sich ein Flugzeug vom Typ De Haviland Gypsy Moth und dreht mal eine kesse Runde mit seiner Schwester, die sich am meisten darüber freut, wieder lebend aus dem Gefährt zu steigen. Zwei Jahre nach Charles Lindberghs berühmtem Atlantikflug guckt sich Chichester Europa von oben an. Dann knattert der frisch gebackene Pilot allein zum Outback zurück, das andere Ende des Commonwealth. Chichesters Alleinflug nach Australien ist eine kühne Tat, leider nur der zweite in der Geschichte. Es wird langsam mal Zeit für eine chichestersche Erstleistung. So startet er 1931 mit Schwimmern unter seinem einmotorigen Doppeldecker zur riskanten 2.000 km Passage von Ost nach West über die wetterwendische Tasmansee. Eine große Herausforderung dabei ist die Sextant Navigation, um die Lord Howe Inseln zur Zwischenlandung zu finden, bevor der Sprit ausgeht. Flinke und präzise Standortbestimmungen werden ihm später über die Weltmeere helfen. Die Passage von Neuseeland nach Sydney ermutigt Chichester, allein um die Welt zu fliegen. Das hat auch noch keiner gemacht. Die Reise endet in Japan, wo er in eine Telefonleitung gelangt und östlich von Tokio in den Hafen von Katsuura stürzt. Chichester kommt mit 13 Brüchen davon und geht eine Weile fischen. In Ermangelung eines eigenen Flugzeugs überredet einen vermögenden Schafzüchter, mit ihm 1936 nach England zu fliegen. Dort macht er während einer Zugfahrt seiner zukünftigen Frau Sheila Craven einen Heiratsantrag mit der offenherzigen Erklärung, er hätte „hundert Pfund in der Tasche, 14.000 Pfund Schulden und ein Paar Bäume in Neuseeland.“ Offenbar überzeugte eher sein Charme als seine Vermögensverhältnisse.
Den zweiten Weltkrieg möchte der passionierte Flieger natürlich nicht am Boden bestreiten, sondern Großbritannien als Pilot verteidigen. Im Unterschied zu seinem ähnlich vom Fliegen besessenen französischen Kollegen Antoine de Saint-Exupéry, wird Chichester aus Altersgründen nicht genommen. Nach dem Krieg gründet er in London den heute noch bestehenden Kartenverlag, die Francis Chichster Ltd und lernt segeln. 1952 kauft er sein erstes Boot, eine gebrauchte 8 Tonnen Slup, die er in Erinnerung an seinen weit gereisten Doppeldecker „Gipsy Moth II“ tauft. Chichesters Begeisterung und Ehrgeiz führen ihn rasch auf namhafte Regattaboote. Bald lässt er vom seinerzeit angesehenen Yachtarchitekten Robert Clark (Favona, Jocasta, Ortac) „Gipsy Moth III“ zeichnen, eine schlanke, langkielige Slup mit V-förmigen Spantschnitten, jenes Schiff, mit dem er 59-jährige die erste Ostar-Regatta gewinnt und den Nordatlantik erkundet.
Für die Umschiffung Kap Hoorns wählt Chichester die Route der berühmten Wollklipper, die Neuseeland und von Westen her ansteuerten. Nachdem ihm der Alleinflug um die Welt nicht glückte und es schon die eine oder andere Weltumseglung gab, plant Chichester die schnellstmögliche Reise mit gerade mal einem Zwischenstopp, so schnell wie die ungleich größeren, vielbemannten Clipper. Er möchte es in hundert Tagen von Plymouth bis Sydney schaffen, und nach weiteren hundert Tagen wieder in Plymouth festmachen. Das geht mit „Gipsy Moth III“ nicht. Für dieses kühne Vorhaben braucht er eine eigens entwickelte Rennmaschine, deren gestreckte Wasserlinie eine größere Durchschnittsgeschwindigkeit bietet. Lediglich die einzelnen Segelgrößen und die Verdrängung begrenzt der Mittsechziger. Segelrollanlagen und selbstholende Winschen sind damals noch nicht erfunden. In den 60er Jahren wird noch von Hand und mit Stagreitern gesegelt. Mehr als neun Tonnen darf das neue Schiff folglich nicht wiegen. Die bewährte Einrichtung soll von seinem zweiten Schiff übernommen werden. Das Boot entsteht in Zusammenarbeit von Angus Primrose und der englischen Hochseesegelkapazität John Illingworth, einem Segler vieler RORC Regatten und Erfinder des Sydney-Hobart Rennens. Die angesehene Werft Camper & Nicholsons fertigt in der noch recht neuen formverleimten Bauweise aus fünf Lagen Honduras Mahagoni. Neue wasserbeständige Leime machen es möglich. Eine große Yachtsporttradition, große Namen stehen hinter dem Projekt. Das Ergebnis ist ernüchternd. „Gipsy Moth IV is perhaps one of the worst racing yachts ever built“, eine der wahrscheinlich schlechtesten Rennyachten, die je gebaut wurden, meint ein Kenner. Sie wird Monate später fertig als geplant. Sie ist mit 11,5 Tonnen deutlich schwerer geworden als geplant, mit 35.000 Pfund zugleich wesentlich teurer als veranschlagt. Immerhin lässt sich dieses Problem lösen. Chichesters Vetter Tony Dulverton hat Geld, er finanziert das Abenteuer.
Gravierender ist, dass das Verhältnis von Segelfläche zur Verdrängung nicht stimmt. Gipsy Moth IV geht mit einer Segeltragezahl von nicht einmal 4 an den Wind, einem aus heutiger Sicht mäßigen Fahrtenbootwert. „Gipsy Moth IV“ läuft bei leichten Winden nicht und fordert dem Einhandsegler ständige Segelwechsel ab. Der Ballastanteil liegt, bezogen auf 11,5 Tonnen, bei mageren 33 Prozent, verdammt wenig für ein schlankes, auf das Blei im Kiel angewiesenes Schiff. Das Boot ist rank und rollt wie der Teufel. Nach ersten Probeschlägen bessert die Werft nach, packt eine halbe Tonne Blei zusätzlich unters Schiff. Chichester schafft die Reise annähernd so schnell wie die berühmten Wollklipper. 226 Tage verbringt er allein auf See. Der zähe Senior ringt dem unausgewogenen, untertakelten, nicht gerade kursstabilen Schiff eine Durchschnittsgeschwindigkeit von sechs Koten ab. Das Boot ist undicht, Haslers Selbststeueranlage nicht ausgereift. Chichesters Skizzen von der bewährten Kajüteinrichtung seines Vorgängerschiffs wurden nicht umgesetzt. Konstrukteur Primrose hat die Zeichnungen verschlampt. Die hölzernen Schubladen quellen und klemmen oder leeren ihren Inhalt auf die Bodenbretter. In Sydney kommt das Schiff in die Werft, Kursstabilität und mangelhafte Steifigkeit werden mit einem modifizierten Kiel verbessert. Die Fachwelt, Freunde und Verwandte raten dem von den Strapazen der Reise entkräfteten Chichester von der Fortsetzung der Reise ab. Der Southern Ocean gilt damals mehr als heute als No Go Area, eine Wasserwüste, die niemand freiwillig ansteuert. Doch Chichester segelt weiter. Bereits in der Tasmansee, jenem Gewässer, das er einst mit seinem Doppeldecker überflog, kentert er durch. Vor Kap Hoorn entsteht dann jene Aufnahme, die zur Ikone des Yachtsports geworden ist. Sie zeigt die Ketsch in schwerer See, angetrieben von einem handfesten Sturm unter blanken Masten und dem kleinen Dreieck der Sturmfock. Chichester ist unter Deck und meldet sich via Kestrel Marconi Radio: „This is Gipsy Moth IV calling London …“ Die halbe Welt verfolgt seine Reise anhand Chichesters regelmäßigen Meldungen. Die englische Marine empfängt den Segelhelden vor Kap Hoorn mit einem im Süden stationierten Patrullienschiff, Reporter kreisen in einem Flugzeug über dem Einhandsegler. Seit diesem kalten grauen Montagmorgen, dem 20. März 1967 vor Kap Hoorn ist das Ozeansegeln ein medial aufbereitetes Spektakel, dem zwei Jahre später die erste Einhandregatta um die Welt, Anfang der 70er dann das erste Whitbread Round the World Rennen, Vorläufer des heutigen Volvo Ocean Race, folgt.
Chichester schafft die Reise nicht dank, sondern trotz seines Schiffes und fasst seine Motive zu dieser Reise in Plymouth mit dem entwaffnend ehrlichen Satz zusammen: „ich segele, weil es mein Leben intensiver macht“. Für sein Schiff findet er nach dem triumphalen Empfang in England nüchterne Worte: „Ich hänge nicht an Gipsy Moth IV. Außerdem gehört mir bloß das Achterschiff, meinem Vetter gehören zwei Drittel. Ich hätte kein Problem, das Achterschiff abzusägen. Das Boot war eh zu lang.“ Eine erstaunlich kalte Bemerkung nach einer alles in allem geglückten Reise, die ihm Ruhm und weltweite Bewunderung brachte.
Seit der Überführung nach London segelt Chichester „Gipsy Moth IV“ nicht mehr, ruht sich allerdings auch nicht im Lehnstuhl aus. Mit knapp 70 Jahren segelt er mit seinem neuen, diesmal schonergetakelten Renner „Gipsy Moth V“ von Robert Clarks Reißbrett weitere Rekorde auf dem Atlantik. Sir Francis lebt die Droge der seglerischen Lebensintensivierung geradezu besessen, bis er 1972 seinem Krebsleiden erliegt. Die „Yacht“ würdigt ihn damals als „Wahnsinns-Typ.“ Sir Francis Chichesters Abenteuer mit dem einmotorigen Doppeldecker, seine Rekordjagden mit unterschiedlich geeigneten Schiffen bleiben ein „Triumph über den Anpassungsdruck und die Durchschnittlichkeit modernen Lebens“ wie eine Zeitung in Sydney meint. Um 14 ereignisreich glückliche Jahre hat der notorische Abenteurer sein Leben unter Segeln verlängert.
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