Der aparte Anachronismus

1908 in Schweden erfunden, in den Zwanzigerjahren in Deutschland eingeführt, ist der Dreißig Quadratmeter Schärenkreuzer seit den Fünfzigerjahren der Evergreen süddeutscher Seen.

Längst gilt das Segelboot als schwimmendes Wochenendhaus, wo man mit daheim vertrauten Annehmlichkeiten an Bord Abstand vom Alltag findet. Bereits auf einem kleinen bis mittelgroßen Touren- und Familienurlaubsboot kann man kochen, essen, duschen und schlafen, neuerdings sogar Fernsehen oder im Internet surfen. Da das moderne Freizeitboot zunehmend unter Komfort Gesichtspunkten, also von innen nach außen gedacht und gebaut wird, ist es hochbordig, voluminös und achtern etwas breit. Mit jedem von Modellzyklus zu -zyklus zugefügten Zentimeter Bootsbreite und -höhe schwindet allerdings der Kontakt zum Wasser.

In der beinahe vergessenen aristokratischen Ära des Segelns gab es eine klare Teilung zwischen Segeln und Landleben. Anfang des 20. Jahrhunderts waren Segelboote Daysailor, wurden wie das Pferd für den Jagdausflug, wie ein Golf-, Hockey- oder Tennisschläger für die konzentrierte Ausübung des Sports benutzt. Zum Faulenzen oder Feiern gab es das Club- oder Sommerhaus an Land. Für Segler, die wissen, dass ein Boot höchstens zwei der vielfältigen, einander oft ausschließenden Erwartungen erfüllen kann, ist der mittlerweile 99 Jahre alte Schärenkreuzer die erste Wahl. Die heute in Süddeutschland beliebte 30 Quadratmeter Klasse ist etwa so lang wie ein übliches 40 Fuß Kompaktboot. In der Kajüte stehen, duschen, zu sechst im Salon zu Abend essen lässt sich zwischen den schnittig schlanken, ganzen sechzig Zentimeter hohen Planken jedoch nicht. Mit einem Schärenkreuzer kann man nur richtig segeln und sich abends im Club bei einem Glas Wein am Anblick des filigranen Renners erfreuen.

Für Christian Dornier beispielsweise, er segelt ein natur lackiertes Holzboot in modern formverleimter Bauweise Baujahr 1993, den Stuttgarter Architekten Professor Joachim Frowein, er hegt und pflegt ein traditionell geplanktes Abeking & Rasmussen Schiff von 1930, den Schauspieler Horst Janson, er studierte an Bord seiner 1928 in Schweden getischlerten Antiquität auf dem Starnberger See manche unterhaltsame Bühnen- und Fernsehrolle ein, oder den süddeutschen Unternehmer Artur Schwörer, der sich am besten im Schlachtgetümmel der Regattabahnen an Bord seiner 1984 getischlerten „Acrissa“ von der Beanspruchung durch die weltweit tätige Peri Gruppe erholt, kommt kein anderes Schiff an die Boje.

Bereits in den 1920er Jjahren schwärmte der Bootskonstrukteur und Werftinhaber Henry Rasmussen für den “hohen feinfühligen segelsportlichen Genuss“ des Bootes. Abeking & Rasmussen tischlerte damals 52 Schärenkreuzer. Der Stuttgarter Robert Magirus hat eine ganz einfache Erklärung für den Reiz des Renndreißigers: „Er läuft immer. Bei wenig Wind und wenn es bläst. Sie können ihn auch wunderbar einhand segeln wenn gerade niemand von der Crew Zeit hat“. Die Ästhetik des Bootes ist für Magirus „ein innerer Wert. Man spürt ihn zwischen dem umlaufenden Süllrand, Pinne und dem kleinen Mahagonideckshaus“ fasst der alte Hase der Schärenszene sein Seglerglück zusammen. Es gibt keinen zweiten Bootstyp, der mit seinen filigranen Überhängen schwebt wie ein Schärenkreuzer. Fünf mal segelte Magirus mit Dreißigern die „Centomiglia“. 1952 gewann er die berühmte Gardasee Langstreckenregatta als Vorschoter.

An der schlichten Finesse des Bootes, dem sensiblen Segelgenuss kann man sich jahrzehntelang erfreuen. So werden viele Schärenkreuzersegler mit ihrem Boot alt. Es werden ziemlich runde Geburtstage, etwa anlässlich des letztjährigen Classic Cups vor Langenargen, gefeiert. Die 80 Jahre alte „Marama“ ist einer der ältesten hiesigen Schärenkreuzer.

190 Exemplare zählt die „Internationale Vereinigung der 30er qm Schärenkreuzer Klasse“ allein hierzulande, in Österreich und der Schweiz, wobei der Schwerpunkt mit 151 registrierten Schiffen in Deutschland liegt. Weitere Flotten existieren übrigens seit den Dreißiger Jahren in Ungarn, Südafrika, in den USA, England und natürlich in Schweden.

Seit einer Weile ist die ursprünglich schwedische Konstruktionsklasse in unseren Gewässern de facto eine Eintypklasse. Bei aller ästhetischer Extravaganz und seglerischer Rasanz sollen präzise Bauvorschriften fairen Wassersport sichern. Regatten mit 17 Booten vor Friedrichshafen, 22 und 31 Teilnehmern vor Lindau und Bregenz und 45 Bewerber um die Jahreswertung des Reimers Pokals im vergangenen Jahr künden vom sportlichen Wert. Derzeit entsteht am Bodensee das nächste, formverleimte Holzschiff. Neulich hat die Rechner gesteuerte Fünfachsfräse der Hamburgischen Schiffbau Versuchsanstalt eine Form zur günstigen Serienfertigung hergestellt, in der Kunststoff Rümpfe in zeitgemäß aufgeheizter und hochwertiger Epoxydharz Bauweise entstehen. Die Geschichte des charmanten Klassikers geht weiter.

Dank seiner Breite von 2,18 Metern und dem geringen Gewicht von etwa 2,7 Tonnen lässt sich das Boot problemlos mit einem der heute beliebten SUV oder Geländewagen trailern.

In der kommenden Saison werden die schlanken Planken ab 12. Mai vor Friedrichshafen anlässlich der Pokalregatta des Württembergischen Yachtclubs um die Bojen gescheucht. Zu den Höhepunkten zählt die Bodensee Langstrecke „Rund Um“ im Juni, der vor Lindau ausgetragene Peri Cup Mitte September, wo abends ungefähr so gediegen getafelt wie tagsüber gesegelt wird, und die Voiles de Saint Tropez genannte Segelwoche Anfang Oktober. Zu diesem gediegenen Saisonabschluss bringt mancher süddeutsche Segler seinen Klassiker mit und takelt zur Fête de la mer noch mal in nobler Gesellschaft auf.

Beim alle zwei Jahre abwechselnd in der Heimat der Bootsklasse, den ostschwedischen Schäreninseln und der zweiten Heimat, dem Bodensee, ausgetragenen Europapokal, fochten im August vergangenen Jahres 31 deutsche, englische, französische, österreichische, schwedische und schweizerische Mannschaften vor Bregenz ihre Meisterschaft aus. Zum Leidwesen der Lokalmatadoren mit langjährig verinnerlichten Beziehungen zu den örtlichen Windverhältnissen am Dreiländereck zu Füßen des Pfänder wurden sie ausgerechnet von einem Franzosen an Bord eines brutalstmöglich in Australien laminierten Plastikbootes namens „Pinchgut“ geschlagen.

Der Skandal schreit nach seglerischer Satisfaktion, welche die Bayern und Schwaben bestens präpariert in Schweden während des 2008 gefeierten hundertjährigen Geburtstags der Klasse im Heimatland der Schärenkreuzer wahrnehmen werden. Übrigens wurden mehr als 1.200 Schärenkreuzer verschiedener Größen, von der 15 Quadratmeter Klasse bis zum 150er, gebaut. Der populäre 30er ist ein mindestens an Deck, idealerweise komplett aus edlen Hölzern getischlertes Kultobjekt aus glänzend lackiertem Mahagoni mit Teakdeck und kleiner Schlupfkajüte. Wem 100 Tausend Euro für einen Neubau zu teuer sind, gönnt sich eines der acht Gebrauchtboote, welche in der Website der Klassenvereinigung für 20 bis 45 Tausend Euro inseriert sind.

Seine Eleganz mit gestreckter, über dem Wasser schwebender Bug- und Heckpartie verdankt das Boot der 1907 in Stockholm verabredeten Schärenkreuzerregel, deren rasante Entwicklung in den zwanziger Jahren mit präzis formulierten Bauvorschriften eingefroren wurde. Hugo Stinnes, Prinz Eitel Friedrich von Preußen oder der Reeder Erich Laeisz machten Schwedens charmanten Beitrag zum Segelsport damals in Deutschland und den Staaten bekannt. Sie setzten in den  zwanziger Jahren so begeistert auf die fashionable Regattaklasse, wie heutige Protagonisten des Segelsport in der Mumm 36 Klasse, Farr 40 oder Transpac 52 um die Bojen brettern.

Solange die Mehrheit der Bootskäufer auf dem multioptionalen Kompaktboot – in den Staaten „average white boat“ genannt –  immer mehr unterbringen möchte, ragt das noble Viermann-Kielboot als aparter Anachronismus von Modellwechsel zu Modellwechsel deutlicher aus der üblichen Freizeitflotte heraus.

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