Zwischen den Welten

Zwei lange wie mutige Törns und die Bücher darüber machten Bernard Moitessier vor einem halben Jahrhundert zum Guru des Blauwassersegelns. Mit seinem einnehmenden, den Leser zu seinen Reisen mitnehmenden Ton, wunderbaren Schilderungen der facettenreichen Meereswelt, gedanklichem Tiefgang faszinieren „Der verschenkte Sieg“ bis heute. Sein Schiff, die „Joshua“, wurde zur prototypischen Langfahrtyacht. Die 2015 auf deutsch erschienene Autobiografie „Tamata“ weitet den Blick nun erfreulich über das Seglerische hinaus.

Jeder Segler kennt „Der logische Weg“, die Schilderung der kühnen Kap Hoorn Umseglung von Françoise und Bernard Moitessier 1966. Bekannter noch ist seine legendäre zweite Reise, die allein absolvierte eineinhalbfache Weltumsegelung, in der deutschen Ausgabe unter dem leider unnötig sensationsheischenden Titel „Der verschenkte Sieg“ beschrieben. Seit dieser zehnmonatigen Reise, dem Buch darüber und seinem Rückzug nach Polynesien wird Moitessier als segelnder Minimalist, Philosoph, Hippie und Weltverbesserer mit seltsamen Ansichten wahrgenommen. Was er seit getan und nicht nur proklamiert hat, war dagegen kaum bekannt.

Moitessiers Reisen waren vor einem halben Jahrhundert eine Sensation. Nautisch sind sie inzwischen überboten. Der Regattakurs von und nach Europa wird heute mit modernen Booten in einem Viertel der Zeit absolviert. Der Australier Jon Sanders segelte dreimal nonstop um die Erde, 71 Tausend Seemeilen am Stück. Der Amerikaner Reid Stowe verbrachte mehr als drei Jahre ununterbrochen auf See, zwei davon ohne Landsicht. Sind solche Abenteuer unter dem Strich mehr als Ausdruck einer fragwürdigen, zahlenfixierten Rekordbesessenheit? Sind da neue Erkenntnisse zu gewinnen?

Ende der Sechzigerjahre war die Herausforderung der Golden Globe Regatta, nonstop und einhand um die Welt zu segeln, etwas Neues. Der einzige Teilnehmer der Regatta, der seit der Kap Hoorn-Umsegelung wusste, was ihn im Südmeer erwartet, war Bernard Moitessier.

Alleinsegeln war damals Allein-sein. Es bedeutete, für Monate komplett auf sich gestellt auf den Weltmeeren zu verschwinden. Ein psychisches Wagnis. Kein Vergleich mit der 2020/21 ausgesegelten Vendée Globe, die mit modernen Booten und zuverlässigen Kommunikationsmöglichkeiten ein vergleichsweise geselliges und sicheres Event ist.

Was unterscheidet Moitessiers zehnmonatige Reise damals? Was ist an der Beschäftigung mit seiner Reise und seinem Leben heute noch interessant? Es ist die Perspektive seiner Sozialisation, seine Herkunft und seine Entwicklung unterwegs. Es sind seine Gründe, aus der Regatta auszusteigen, der Rückzug aus der westlichen Welt. Dank seiner in „Tamata“ veröffentlichten Erinnerungen erfahren wir, wie er diese Entscheidung in den folgenden Jahren gemeistert hat. Andere Blogs, Artikel und Bücher über Moitessier erweitern den Blick. Sie zeigen auch, wo, warum und wie er später gescheitert ist.

Es ist bereichernd, Moitessier nochmal und anders zu lesen, sich auf seine wunderbaren Schilderungen des Meeres einzulassen. Die Schönheit der Meereswelt war sein Ausgangspunkt und blieb sein Thema.

«Ein Kamm, höher als alle anderen, verwandelt sich manchmal in eine flüssige Mauer, deren transparenten Scheitel die Sonne durchdringt und ihn blau­grün aufleuchten lässt. Man möchte dann meinen, die See wünsche ihr Kleid zu wechseln. Aber der Rest verharrt in einem tiefdunklen Blau, dessen Abstufungen in andere Tönungen von Blau verfließen. Und das in unendlich vielen Blautönungen schimmernde Weiß rieselt den Wellenhang herab, wo auch das Grün in kurzen Spiegelungen durchscheint. Hin und wieder löst sich ein Teilchen der Mauer vom Gipfel, kippt nach vorn und ergießt sich unter gewaltigem Tosen wie ein Wasserfall.»

Diese Zeitraffer-Ansicht der schaurig schönen Wasserwelt stammt von einem Reisenden, der sich von den Landlebensängsten befreit, den Verstrickungen, den Fährten und Verlockungen des komfortablen Lebens freigesegelt hat. Moitessier geißelt die zerstörerischen Ideale und Ziele so pauschal wie deutlich als „falsche Götter des Westens“. Kann er ihnen entkommen?

«Ich komme aus einer anderen Zivilisation»

Als er im Februar 1968 das zweite Mal Kap Hoorn ansteuert, ist Moitessier ein halbes Jahr unterwegs. Allein, nicht einsam segelt er, beschäftigt mit Erinnerungen an seine Kindheit in französisch Indochina, seinen persönlichen Verstrickungen, seinen Dämonen. Wie er später in „Tamata“ erzählt, war er während des Guerillakriegs in Indochina knapp dem Tod entkommen. Plötzlich waren die Spielkameraden seiner Kindheit Feinde. Nach der Erschießung eines Viet Minh-Anhängers hat sein Bruder sich das Leben genommen. Moitessier verließ das Land seine Kindheit mit einem selbst zurechtgemachten Segelboot. Gewiß ist die fortgesetzte Flucht aufs Meer, sein Alleinsein ein Versuch, das Drama und Schicksal seiner in den Krieg geratenen Familie hinter sich zu lassen.

Der Rückzug in die überschaubare Welt des Bordlebens ist ein ursprüngliches, verständliches Motiv, segeln zu gehen. „Wind, See, Schiff und Segel bilden eine zusammengehörige, lose gefügte Einheit, ohne Anfang noch Ende, Teil und Ganzes des Universums, meines eigenen, nur mir gehörigen Universums“ schreibt Moitessier.

An Bord sucht er Orientierung, einen Kurs für sein weiteres Leben. Die Ablösung von der europäischen Welt, in die er wenige Jahre zuvor hinein schnupperte, hat begonnen. Nach seinem Schiffbruch in der Karibik ist er als Berufsseemann an Bord eines Tankers via Hamburg nach Paris gekommen. Ermutigt von Jean-Michael Barrault hat er 1958 ein vielbeachtetes Buch über seine früheren Segelreisen geschrieben. Er hat sich als Außendienstler mit dem Verkauf von Autopolitur durchgeschlagen, den Entwurf seiner „Joshua“ umsonst, den Bau zum günstigen Materialkostenpreis bekommen. Er hat geheiratet. 1964 – 66 segelten seine Frau Françoise und er von Marokko, via Karibik nach Tahiti und um Kap Hoorn zurück – ihre Hochzeitsreise.

Moitessier zeigt ihr sein einfaches, naturnahes Leben, das zum Glück so wenig braucht. Einen robusten Langkieler, aufgetakelt mit gebrauchten Telegrafenmasten, ansonsten wahrlich sparsam ausgestattet. Eine Taucherbrille, Geschick beim Fischfang, etwas Frischwasser und Nähe zur Natur reichen. Sechs Wochen verbringt das Paar vor Anker in einer Bucht der Barrington Insel auf den Galapagos. Beschäftigt mit den Pflichten der Bootspflege, Tauchen, Fischfang, Staunen, dem Honeymoon und unbekümmerten Leben in „einer Welt, die die Furcht noch nicht kennt.“ Doch sind die paradiesischen Tage für das Paar gezählt. Die Ehe ist nach Moitessiers zehnmonatigem Törn in Tahiti zuende. Die Beziehung zu Francoise, für die er in seinem zweiten Buch so liebevolle und rührende Worte gefunden hat, das Projekt gemeinsamen Glücks, gemeinsam erneut angesteuerter Paradiese, Geschichte.

Nun ist er seit August 1968 wieder unterwegs. Auf die von vielen Törns unterbrochene Landlebens-Episode zurückblickend, erscheinen seine Jahre in Frankreich als Stippvisite. Moitessier ist damals bereits bekannt, gilt seit der kühnen Kap Hoorn Umsegelung als prominenter Hochseesegler. Der Architekt und Immobilienentwickler François Spoerry hat Moitessier ein Haus im damals à la Venedig gebauten Retortenhafen Port Grimaud angeboten. Keiner außer Moitessier hätte dieses Geschenk abgelehnt.

Der Meeresvagabund vom Mekongdelta eignete sich nicht zur Galeonsfigur einer schicken Cote d‘ Azur-Touristik. Auch war Moitessier noch nicht bereit, an Land sesshaft zu werden. Die Heimat des maßgeblich asiatisch, teils europäisch geprägten Seglers, den als Kind bereits die Welt der Dschunken und ihrer Schiffer angezogen hatte, blieb das Meer. Die erschwingliche, einfache, instinktiv betriebene Nautik war seine Welt, blieb für ihn die einzig richtige Daseinsform.

Moitessier hatte einem Fischer seiner Heimat einmal einen Kompass gegeben, der sich das Instrument gründlich ansah. Am nächsten Tag erhielt Moitessier den Kompass mit folgender Erklärung zurück: „Du brauchst Licht, um ihn nachts zu sehen und das blendet Dich. Segelst Du stattdessen nach den Sternen oder der Windrichtung segelst Du ungestört vom Licht. Du sieht immer wo du hinfährst und Deine Ohren hören, was das Meer ihnen sagt.“

Moitessier ging es um Kontrolle, um Freiheit, die der Mensch gegenüber Technik hat, behält oder verliert. Eine interessante, auch in unseren Lebenszusammenhängen orientierende Überlegung. Moitessier wird als „segelnder Minimalist“ gesehen. Die Rubrizierung von Menschen oder Ideen ist eine clevere, aber auch durchschaubare Strategie, um sich nicht auf sie und ihre Überlegungen einzulassen.

Sein selbstgewähltes Alleinsein, die bewusst getroffene Entscheidung gegen ein von den Regatta-Veranstaltern angebotenes Funkgerät ist Voraussetzung für die Gelassenheit und den Frieden, den er unterwegs findet. Von gelegentlichen Nachrichten im Radio abgesehen erfährt er von draußen nichts. Seine Kommunikation ist nur in einer Richtung möglich. Er hat sich für das Senden per Flaschenpost mit Nachrichten in unterwegs ausgesetzten Modellbooten oder bei gelegentlichen Begegnungen mit anderen Schiffen per Steinschleuder entschieden. Seit seiner Kindheit ist er mit der Zwille, bestehend aus Astgabel und Gummiband vertraut. Damit schießt er seine Nachrichten und die Filme seiner Fotos treffsicher an Bord anderer Schiffe.  Sein Solistentum ist Voraussetzung, den Augenblick eines brechenden Wellenkamms im Zeitraffer zu beschreiben wie den Abgang einer Lawine.

Sein selbstgewähltes Alleinsein, die bewusst getroffene Entscheidung gegen ein von den Regatta-Veranstaltern angebotenes Funkgerät ist Voraussetzung für die Gelassenheit und den Frieden, den er unterwegs findet. Von gelegentlichen Nachrichten im Radio abgesehen erfährt er von draußen nichts. Seine Kommunikation ist nur in einer Richtung möglich. Er hat sich für das Senden per Flaschenpost mit Nachrichten in unterwegs ausgesetzten Modellbooten oder bei gelegentlichen Begegnungen mit anderen Schiffen per Steinschleuder entschieden. Seit seiner Kindheit ist er mit der Zwille, bestehend aus Astgabel und Gummiband vertraut. Damit schießt er seine Nachrichten und die Filme seiner Fotos treffsicher an Bord anderer Schiffe. Sein Solistentum ist Voraussetzung, den Augenblick eines brechenden Wellenkamms im Zeitraffer zu beschreiben wie den Abgang einer Lawine.

Nach seiner Entscheidung, vom Regattakurs abzubiegen und seine Reise mit neuem Ziel fortzusetzen, wurde über Moitessiers geistigen Zustand spekuliert und darüber, ob ihm die lange Einsamkeit veränderte habe. Steigert die Gefahr und Intensität des Segelns in den hohen Breitengraden das Bordleben des Solisten zur persönlichkeitsverändernden Droge? Einhandsegler haben wiederholt von Erscheinungen unterwegs berichtet. In Moitessiers „Verschenktem Sieg“ ist dokumentiert, wie euphorisch er während seiner langen Reise lebte. Auch diese Entgrenzungserfahrung, die gefährliche Lust, seinem Schiff von außen, vorne aus dem Bugkorb beim Segeln zuzuschauen oder es aus guten Gründen zu lassen, hat er geschildert.

Moitessier hat die erste Einhand-Regatta um die Welt als teils willkommenen, teils abgelehnten Anlass genommen, wieder segeln zu gehen. Er ist Reisender, kein Regattasegler. „Von Plymouth ablegen und nach Plymouth zurückkehren erscheint mir (…) als von nirgendwo nach nirgendwo zu segeln“ erkennt er. Der Teilnehmer einer Regatta segelt nicht nur geografisch gesehen, auch gedanklich im Kreis, kehrt zurück, wo er hergekommen ist: in den Heimathafen, auf das Parkett des Clubs. Über den Genuss intensiv gelebter Stunden, Tage oder Wochen an Bord hinaus gilt das eigentliche Interesse des Regattaseglers der Anerkennung, Bestätigung, der Befriedigung im Wettkampf gut abzuschneiden. Moitessier interessiert das nicht. “Regattasegeln ist wie Pokern“ erklärte er seinem Pariser Seglerfreund und Förderer Jean-Michael Barrault bereits 1960 nach der Teilnahme an der Giraglia-Regatta. Moitessier kam von draußen. Er blieb draußen. Diese Haltung ist für den Leser eine Chance.

«Ein Boot ist Freiheit, kein Transportmittel»

Als er mit „Joshua“ Kap Hoorn ansteuert ist er Anfang Vierzig. Hinter ihm liegt die bestandene Prüfung der Kap Hoorn Umsegelung mit seiner Frau, wo das Ehepaar lernt, das Boot ungebremst durch die Wasserwüste des gefährlichen Südpazifiks zu bringen. Moitessier hat es in „Der logische Weg“ beschrieben. Er hat seine Ängste hinter sich gelassen wie die damals zum Bremsen des Bootes geschleppten, im Südpazifik abgeschnittenen Trossen. Im Bücherbord hat er ein Buch über „Sport & Yoga“ entdeckt. Die Übungen geben ihm Konzentration, Mitte, Kraft und Anschluss an seine in Indochina erlebte Kindheit.

Bei einem Interview erklärte er Anfang der Achtzigerjahre scheu lächelnd an Bord von „Joshua“ in San Francisco: „Wir sind ein Haufen Affen, mich eingeschlossen. Schauen Sie, was wir machen? Wir bekämpfen einander, es gibt überall Kriege. Ich erkenne darin nichts Menschliches. Wir kämpfen um Geld, wir verschwenden. Menschen hungern. Es interessiert uns nicht. Wir sind alle Affen, aber wir können uns entscheiden ob wir weiter Affen bleiben wollen oder uns weiterentwickeln.“ Diesen Schritt zu gehen, ihn vorzuleben war seit dem Ausstieg in Polynesien sein Thema. Segeln ist für Moitessier eine Chance zur eigenen Weiterentwicklung, ein Weg auf seiner Suche nach der vierten Dimension.

Moitessier hatte sein zweites Buch „Der Logische Weg“ 1966 rasch, den zweiten Teil spürbar lustlos geschrieben. Als nacherzähltes Logbuch hob es sich kaum vom Genre der üblichen bunten Abenteuer-, Langfahrt- und Weltumseglerbücher ab. „Der Logische Weg“ war für ihn unter Par. Seitdem hatte der sich schreibend selbstvergewissernde Segler eine Rechnung offen. Er wollte zu einem noch zu erkundenden Kern vordringen.

«Ich habe gelernt, mich mit dem Wesentlichen zu befassen»

Moitessiers Drama: Als er am 21. Juni 69 nach seiner langen Reise in Tahiti anlegt, ist das „Monster“ der westlichen Welt schon da. Die Betonmischer stehen zur Modernisierung von Papeete, jenes Hafens, den er drei Jahre zuvor mit seiner Frau als Idyll kennengelernt hatte, bereit.

Sein Freund Jean-Michael Barrault hat als jahrzehntelanger Begleiter, Sympathisant und Weggefährte in „Moitessier, A Sailing Legend“ das Problem des in Tahiti angekommenen Seglers so gütig wie klar geschildert: die Drückebergerei vor der selbstgesteckten, noch nicht klar umrissenen, großen Aufgabe. Praktisch jeder, der sich selbstständig einer handwerklichen, kreativen oder abstrakten Aufgabe stellt, kennt diese Hürde. Als Moitessier Anfang der Siebzigerjahre, gefördert von seiner zweiten Lebensgefährtin Iléana Draghici auf Tahiti nach hartem Kampf „La Longue Route“ getippt, über die Schilderung seiner langen Segelreise hinaus die großen persönlichen Fragen und den Irrsinn von Kriege, Umweltzerstörung und besinnungsloser Modernisierung formuliert hat, ist er müde, rutscht in Apathie.

Die falschen Werte des Westens

„Meiner Ansicht nach ist die Botschaft Christi das, was uns seit Anbeginn der Welt als das Großartigste und Schönste anvertraut wurde. Ich griff somit nicht die Religion (oder die Religionen) an, sondern die falschen Werte des Westens. Ich wollte eine klare Antwort auf folgende Frage: Sind wir ein Haufen von Schweinen und Schmutzfinken, oder nicht? Sind volle Teller und der Komfort um jeden Preis unser vorrangiges Ziel, oder nicht? Wer ehrlich genug ist, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken, kann darauf nur eine Antwort geben. Eine zweite wesentliche Frage ergab sich aus der ersten: Sind wir gezwungen, Schweine und Schmutzfinken zu bleiben? Oder wollen wir zu Menschen werden? Im Tausch gegen die materielle Sicherheit, der ich den Rücken kehrte, wollte ich einfach eine Antwort auf diese beiden Fragen zum Sinn des Lebens. Und ich wollte, dass die Debatte in der Öffentlichkeit stattfand.“ So fasste er es später einmal zusammen.

Es sind unangenehme, das in Arbeit und Freizeit kalibrierte Leben störende Fragen, große Fragen. Barrault zufolge ist Moitesser oft abgerutscht. „Bernard ist sehr kompliziert. Er braucht Bestätigung/Beruhigung. Er ist eher instinkt- als vernunftgeleitet und unberechenbar“, sagte eine seiner Partnerinnen über ihn.

In den Tropen aufgewachsen war es für ihn undenkbar, ohne oder gegen die freigiebige Natur zu leben. Während einer Fahrradtour durch Frankreich war er enttäuscht, so wenige Obstbäume an den Straßen zu sehen. Wie vieles, was er aus seiner Kindheit in Saigon erinnerte, waren Bäume als Elixier des Lebens für ihn unverzichtbar. Es war sein mit Briefen und PR-Aktivitäten proklamiertes, auf dem Ahe-Atoll im Tuamotu-Archipel gelebtes Rezept zur Rettung der Welt. „Bäume pflanzen würde das Bewusstsein der Menschen auf ganz einfache Weise ändern. Erst pflanzt, dann gießt Du die Pflanze. Du bekommst einen Baum, er trägt Früchte. Das verbindet die Erde mit dem Himmel – es würde der Garten Eden. Wenn wir wollen, können wir diesen Garten Eden überall schaffen.“ Das ist schlicht und typisch Moitessier im großen Zusammenhang gedacht. Und es ist machbar.

So lässt sich „Der verschenkte Sieg“ auf verschiedenen Ebenen lesen. 2015 erschien im Aequator Verlag die Autobiografie mit dem deutschen Titel „Tamata. Erinnerungen eines Seglers“. Die 1993 erschienene Originalausgabe „Tamata et l’alliance“ ist von vornherein deutlicher betitelt. Bei „Alliance“ geht es um Moitessiers großes Thema, die Verbundenheit mit dem Universum, die spirituelle Seite des Lebens, die sich auch über das Segeln spüren und (wieder)entdecken lässt: während einer Nachtfahrt unter einem klaren Sternenhimmel oder durch südliche, phosphoreszierende Gewässer. Tamata heißt in der Maori Sprache „Versuch es“. Machen, wollen, versuchen war Moitessiers Motto, als er sich nach Jahren der Agonie und des Lamentierens, mit Iléana Draghici und Sohn Stephan Oktober 1975 bis August 1978 als Entwicklungshelfer versuchte.

Tamata war sein Spitzname bei den Einheimischen. So nannte er auch sein letztes Boot. Moitessier gelang es, den widrigen Lebensbedingungen auf dem schmalen, niedrigen, sonnendurchglühten Korallenkranz des Atolls eine Existenz als Selbstversorger mit einem Gemüsegarten und Fischfang abzutrotzen. Es war in Ansätzen möglich, die Gewohnheit der Insulaner, gerade so viel zu tun, wie zum bisherigen, allerdings in zunehmender Abhängigkeit von Importen geführten und automatisch verteuerten Leben nötig ist, zu ändern. Solche Abhängigkeit von Konsumgütern, Lebensmitteln oder Saatgut zunächst einmal weltweit zu installieren und sodann dauerhaft teuer zu verkaufen, also die Schaffung und Lösung des Problems gleichermaßen, ist eine perfide Strategie westlich geprägten Wirtschaftens. ??

Seine Ideen zum Pflanzen und Schützen weiterer Kokospalmen, sein Versuch mit Trinkwasserproblemen, Malaria, den allgegenwärtigen Ratten fertig zu werden, wurden skeptisch beobachtet. Sie wurden zögernd angenommen und wieder vergessen, als Moitessier sich mit Frau und Kind neuen Zielen zuwandte. Ist er also gescheitert? Ich meine nein, denn „Monsieur Tamata“ hat es versucht.

«Bernard war halb Fisch, halb Affe, was auf See praktisch ist» Moitessiers Lebensgefährtin Véronique Lerebours Pigeonnaière

Die Übersiedlung nach Kalifornien, von der sich Moitessier neben dringend benötigtem Geld auch bessere äußere Umstände und die richtige innere Verfassung zum Schreiben seiner Biografie versprach, endete mit der Strandung seines Schiffes in Mexiko im Desaster. Er hatte den gleichaltrigen Klaus Kinski als zahlenden Gast an Bord genommen. Die gemeinsame Zeit von Moitessier und „Joshua“ begann mit der Segelausbildung, im Grunde der Weitergabe des Segelvirus an Menschen, die das ehrlich schlichte Segelhandwerk lernen wollen. So hörte sie auch auf. Kinski plante ein eigenes Boot. In einem Interview erklärte er wörtlich, er wolle damit „aus der Zivilisation verschwinden.“ Wenn auch unter anderen Voraussetzungen und Vorzeichen war Kinskis Projekt das, was Moitessier, seit dem Ablegen in Plymouth am 22. August 1968 versucht hatte. Über den Verlust von Joshua gibt es zwei unterschiedliche Geschichten. Die von Moitessier erzählte und eine, die das Langfahrtseglerpaar Lin und Larry Pardey erkundeten und eine Weile taktvoll unterdrückt haben.

Es ist verständlich und unverständlich zugleich, dass Moitessier sein Schiff nach dem Sturm am Strand verschenkt hat, obwohl „Joshua“ zu retten war. Verständlich, weil er müde und möglicherweise auch mental ausgezehrt war. Vielleicht sah er, dass sein Kapitel mit „Joshua“ zu Ende war und das Boot in andere Obhut kommen musste, damit es bleibt. Unverständlich erscheint es, weil er nach etwa zwanzigjähriger Symbiose ein Schiff aufgab, das er in seinen Büchern beschworen, ihm Eigenschaften eines Lebewesens zugemessen hatte.

Ein Jahr später hat Moitessier ein neues Boot. Wieder hat er es quasi geschenkt bekommen. Das ist von einem Europäer, einem nach Erwerbs- und Besitzgesichtspunkten lebenden Deutschen nicht ohne weiteres zu verstehen. Moitessier lebte in anderen Zusammenhängen, mit Göttern und Dämonen. Er hat auf andere Weise gegeben und bekommen.

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