Vom Schwimmen zum Fliegen

Die Regatten um den America’s Cup treiben die Segeltechnik rasant voran. Neuerdings fegen einrümpfige Flugobjekte übers Wasser. Einblicke in eine abgefahrene Seglerwelt.

Ende 2017 präsentierten die Veranstalter des 36. America’s Cup die kühne Idee, die nächste Regattaserie mit einrümpfigen Tragflächenseglern auszutragen. Die Skizzen dazu erschienen irreal. Mittlerweile haben Segler in Amerika, England, Italien und Neuseeland diese Vision mit kühnen Flugversuchen rasant in die Gegenwart vorgespult. Sie lassen den bisherigen Segelsport alt aussehen.

Der America’s Cup ist ein nach dem K.-o.-System ausgetragener Segelwettstreit. Der Verteidiger und der erste Herausforderer vereinbaren die Modalitäten des nächsten Wettkampfs miteinander. Meist sind die Regeln mit vergleichbaren Booten einigermaßen reell.

Die Änderung der Modalitäten lohnt sich für den Herausforderer, wenn es mit einem ausgereiften Bootstyp kaum Aussicht auf Erfolg gibt. Sie lohnt für beide Seiten, wenn die Rennen ein größeres Publikum interessieren. In den Staaten, wo die Dinge klar beim Namen genannt werden, hieß es einmal, eine America’s-Cup-Regatta mit herkömmlichen Booten anschauen sei so interessant wie Farbe beim Trocknen zu beobachten. Es interessierte allenfalls Insider. Allein handlungsreiche und rasante Rennen sind für die Sponsoren der teuren Boote interessant. Aus dem sogenannten weißen Sport ist längst ein bunter geworden, eine telegene Action, die ein großes Publikum fesselt.

Deshalb ließ Oracle-Chef Larry Ellison den 34. America’s Cup 2013 mit 22 × 14 Meter großen Katamaranen segeln. Sie bretterten auf Tragflächen mit 75 km/h über die San Francisco Bay. Das Spektakel war so rasant wie ein Formel-1-Rennen. Hinzu kam die Sensation, dass es den amerikanischen Pokalverteidigern gelang, die Regatten nach dem eigentlich unaufholbaren 1:8-Rückstand gegenüber den Neuseeländern doch noch für sich zu entscheiden. Vier Jahre später gewannen die Neuseeländer dann die nächste Auflage des America’s Cup souverän. Diesmal mit 15 Meter langen, bis zu 92 km/h schnellen Katamaranen. Der technische und seglerische Vorsprung mit fliegenden Zweirümpfern schien für Europäer unaufholbar. Auch vermissten Segler wie Prada-Boss Patrizio Bertelli die seglerische Finesse und Eleganz von Einrumpfbooten. Also wurden die Karten mit einem neuen Bootstyp nochmals neu gemischt.

Die neuseeländischen Verteidiger vereinbarten mit dem italienischen Herausforderer für den Cup-Wettbewerb im März ’21 vor Auckland ein- statt zweirümpfige Boote, die auf Tragflächen im Tiefflug übers Wasser jagen, und zwar ohne Kiel als Ausgleich zum Winddruck. Das war bisher allein mit handlichen Jollen möglich, wo die Besatzung das Boot mit ihrem Gewicht aufrecht im Wind hält. Die neue AC75-Klasse ist aber 23 Meter lang, 5 Meter breit, knapp 8 Tonnen schwer und mit 230 bis 340 Quadratmeter Segelfläche unterwegs. Da ist mit Crewgewicht wenig auszurichten.

Anstelle eines Bleikiels, wie er bei Segelyachten als Gegengewicht üblich ist, wird das Boot von Tragflächen aufrecht gehalten. Das geschieht mit seitlich unter dem Rumpf beweglichen Armen, an deren Enden Tragflügel mit vier Meter Spannweite angebracht sind. Der Auftrieb der Tragflügel wird wie beim Flugzeug mit Trimmklappen justiert. Auf der windabgewandten Seite erzeugen die Tragflächen bei Fahrt durchs Wasser Auftrieb. Der große Abstand von etwa fünf Metern des überschlägigen Flächenschwerpunkts der Tragfläche zur Mittellinie des Boots bietet einen wirksamen Hebel. Dabei bestimmt die Neigung des Arms neben dem Boot die Flughöhe über dem Wasser. Auf Kursen, auf denen der Wind das Boot seitlich wegdrückt, verhindern schräg angesetzte Tragflächen die Abdrift. Das ersetzt den Kiel oder das Schwert herkömmlicher Segelboote.

Tragflächen-Segelknowhow als Blaupause für Einrümpfer

Zwei solcher seitwärts beweglicher Arme hat die neue America’s-Cup-Klasse. Der zur windwärtigen Seite hin wird aus dem Wasser gehoben, wo seine 1,4 Tonnen zum Gleichgewicht des Gefährts beitragen. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass in den 62 Seiten starken Bauvorschriften der AC75-Klasse nicht mehr von einem Boot, sondern einer „Plattform“ die Rede ist. Versierte Bootskonstrukteure wie Rolf Vrolijk, 73, der seit den siebziger Jahren erfolgreiche Regattayachten entwickelt, zum Sieg des Schweizer Alinghi-Teams 2003 beitrug und derzeit für das englische Team Ineos arbeitet, sehen Boote im Wesentlichen als Plattform, die der Segelfläche möglichst viel aufrichtendes Moment entgegensetzt. Je kippsicherer, desto schneller. Das ging bisher mit zwei- oder dreirümpfigen Booten am besten, deren große Plattformbreite enorme Geschwindigkeiten ermöglichen. Jetzt wird dieses Tragflächen-Segelknowhow als Blaupause für Einrümpfer genommen. Die AC75-Boote sind Vrolijk zufolge unter Stabilitätsgesichtspunkten „Dreirümpfer, bei denen die seitlichen Schwimmer durch Tragflächen ersetzt wurden“.

Der deutsche Tragflächenspezialist Martin Fischer ist als international gefragte Kapazität schon länger im Thema und nach längerer Arbeit für den französischen Rennstall Groupama derzeit für das italienische Team Luna Rossa Prada Pirelli tätig. Wir wollten von Fischer wissen, wie acht Tonnen nur vom Wind bewegt aus dem Wasser kommen. Das war bisher allein mit reichlich motorisierten Spezialschiffen möglich. Fischer rechnet beim Telefonat aus dem Kopf vor, dass ein AC75-Renner dazu ganze 140 PS braucht. Diese 100 kW kommen schon bei drei Windstärken zusammen. Das ist eine mittlere Brise, die normale Freizeitsegler überhaupt als Wind ernstnehmen.

Schnelle Reaktion und Routine am Joystick entscheidend

Dann jagt die Plattform mit 56 km/h (30 Knoten) im Tiefflug über das Wasser. Im Wesentlichen auf einer etwa 1,5 Quadratmeter großen Tragfläche. Der Auftrieb wird mit hydraulisch justierten Trimmklappen hinter den Tragflächen eingestellt. Die Trimmklappen werden manuell per Joystick bedient. „Es wäre besser und auch sicherer, wenn ein Computer diese permanente Feinjustage übernehmen würde“, sagt Fischer. Aber das ist nicht erlaubt. So werden die schnelle Reaktion und Routine am Joystick entscheidend sein, ebenso wie das Geschick, das Gefährt in einer idealen Flughöhe zu halten. Kommen die Tragflächen der Wasseroberfläche bei zu großer Flughöhe nah, reduziert das von Wellen erzeugte Wasser-Luft-Gemisch den nötigen Auftrieb, das fragile Gleichgewicht von Auftrieb und Geschwindigkeit ist hin, und das Flugboot klatscht aufs Wasser.

Eine große Flughöhe mit viel Abstand zwischen Rumpfunterseite und Wasser lässt dagegen den bremsenden Druckausgleich zwischen Luv und Lee zu. Dann entsteht ein beim Segeln und in der Fliegerei gefürchteter bremsender Wirbel. Eine niedrige Flughöhe bietet der Tragfläche dagegen sicheren Auftrieb und verringert den Spalt zwischen Bootsboden und Wasser. Zu tief geflogen, berührt der Rumpf allerdings das Wasser. Wasser ist 800 mal dichter als Luft. Entsprechend abrupt bremst das Gefährt ab. Es sieht also ganz danach aus, als würden die Regatten vom 15. Januar an über die Flughöhe entschieden. Ideal ist Fischer zufolge eine „konstante Flughöhe von plus/minus 20 Zentimetern. Bei Wellen ist das allerdings nicht immer möglich. Gelingt es, den Abstand zwischen Rumpf und Wasseroberfläche zwischen 30 bis 100 Zentimetern zu halten, ist das nicht schlecht.“

Um die Entwicklungs- und Baukosten im Rahmen zu halten, bieten die Bauvorschriften der AC75-Klasse den Teilnehmern wenige Spielräume. Einer davon ist die Gestaltung der Tragflächen. Die neuseeländischen Verteidiger setzen auf große, annähernd ebene Flügel, die das Boot möglichst bald aus dem Wasser heben. Die Italiener montierten stattdessen winklige Tragflächen mit weniger Fläche und etwas späterer Abflugzeit. Mit geringerem Wasserwiderstand bieten sie eine höhere Endgeschwindigkeit. Die Bootsböden sind entweder zugunsten einer möglichst kurzen Startphase optimiert oder hinsichtlich eines geschmeidigen Übergangs vom Schwimmen zum Fliegen. Ebenso wichtig sind die windschnittigen Bugpartien für den Segelflug. Jeder Kabrio- oder Motorradfahrer kennt den Windwiderstand bei 50 km/h.

Die neuseeländischen Verteidiger und die italienischen Herausforderer entwickelten die AC75-Klasse gemeinsam, was ihnen gegenüber den anderen Mitstreitern einen deutlichen Zeitvorsprung bot. Auch konnten Neuseeländer und Italiener von Anfang an Computersimulationen nutzen, welche die Neuseeländer für den vorherigen America’s Cup entwickelt hatten. Das ist wichtig, weil Messreihen im Windkanal und Schlepptank nicht erlaubt sind, es wenig Zeit zur Entwicklung und Erprobung des neuen Bootstyps gab und jeder Teilnehmer aus Kostengründen lediglich zwei Boote bauen darf. Zusätzlich reduzierte die Corona-Pandemie kostbare Trainingszeiten auf dem Wasser. Es braucht aber einige Flugstunden, bis die Plattform mit konstanter Flughöhe und hoher Geschwindigkeit über die Regattabahn gebracht wird. Selbst stark bremsende Kursänderungen wie Wenden oder Halsen sollen zuverlässig in der Luft absolviert werden.

Anders als bei herkömmlich langsamen Booten sind die Unterschiede zwischen Kursen im spitzen Winkel zum Wind, mit seitlich einfallendem oder Schiebewind marginal. Der Fahrtwind dominiert den Windeinfallswinkel so weit, dass Vrolijk zufolge Unterschiede von ganzen fünf Grad beim sogenannten „scheinbaren Wind“ zustande kommen. Der scheinbare Wind ist der, der an Bord weht. Die tatsächliche Windrichtung spielt nur noch beim Start eine Rolle. Dann verlässt das Boot mit 33 bis 37 km/h (18 bis 20 Knoten) das Wasser. Bei guten Bedingungen erreicht ein AC75-Renner die dreifache Windgeschwindigkeit, bis zu 93 km/h (50 Knoten). Hochgeschwindigkeitssegeln macht sich seinen eigenen Wind, jetzt mit ein- statt mehrrümpfigen Segelplattformen.

Die Geschichte der Segelfliegerei

Es ist verblüffend, wie lange sich Tüftler schon mit der widerstandsarm schnellen Fahrt auf Tragflächen beschäftigen. Die französischen Segelchronisten François Chevalier und Jacques Taglang haben die fast 160 Jahre währende Entwicklung zusammengetragen. 1861 entdeckt Thomas William Moy beim Schleppen einer Jolle per Pferdegespann die Geschwindigkeitszunahme dank Tragflächen. 1869 meldet Emmanuel Denis Farcot ein Patent für ein Segelboot mit beidseitig am Rumpf sitzenden beweglichen Tragflächen an, die sich geschwindigkeitsabhängig neigen. 1898 entwickelt Enrico Forlanini einen Tragflächenponton, mit dem ihm 1906 auf dem Lago Maggiore mit einem 70-PS-Motor ein 50-km/h-Flug gelingt. 1907 überbietet ihn der Neapolitaner Gaetano Arturo Crocco mit 70 km/h. 1920 reichen die Gebrüder Malcolm und Thomas A. McIntyre ein Patent für ein Tragflächen-Segelboot ein. 1955 gelingt dem Amerikaner J. Gordon Baker nach langjährigen Versuchen mit der einrümpfigen „Monitor“ mit 56 km/h der Durchbruch im besegelten Tragflächenflug. Deren acht Meter langer, 360 Kilo schwerer Rumpf steigt bei fünf Windstärken unter 21 Quadratmeter Segelfläche ab 18 km/h aus dem Wasser. Das Boot ist im Mariners Museum in Newport News, Virginia, zu sehen. Seit den sechziger Jahren wird die Entwicklung mit Tragflächen-Trimaranen vorangetrieben, maßgeblich von französischen Hochseeseglern wie Eric Tabarly mit „Paul Ricard“, später von Alain Thébault mit „Hydroptère“. 1999 revolutionieren die Australier John und Garth Ilett das Jollensegeln mit flugfähigen Moth-Jollen. 2007 entsteht mit dem „Bladerider“ ein Serienboot. 2009 fliegt Thomas Jundt mit einem australischen Tragflügelschiff namens „Mirabaud IX“ über den Genfer See (Sonntagszeitung vom 1. Februar 2009). Damals steigern Kite-Surfer ihren Geschwindigkeitsrausch mit Tragflächen. 2010 wird mit WASZP eine universell flugfähige, in Serie gefertigte Einheits-Moth-Jolle vorgestellt. Weitere Tragflächen-Serienmodelle als Einrümpfer und Katamarane folgen. 2016 prophezeit Martin Fischer die Entwicklung des Tragflächensegelns bei mehr- wie einrümpfigen Booten: „Es wird ozeantaugliche Tragflächen-Mehrrümpfer geben und daraus abgeleitet Lösungen für schnelle Fahrten-Mehrrümpfer, einrümpfige Tragflächensegler auch für schnelles Tourensegeln.“ Heute sind sogar Stand-up-Paddler mit Foils unterwegs.

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