Sylter Schlagzeilen

Wie auf der beliebten Insel die Auswüchse der modernen Industriegesellschaft deutlich werden. Was erreicht wurde, wer bremste und damit welche Maßnahmen verhindert hat.

Bis zum Sommer 1988 war auf Sylt die Welt noch in Ordnung. Die übliche Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Showbusiness gab sich ihr alljährliches Stelldichein. Zwischen Gogärtchen und Ellenbogen tummelten sich Hunderttausende von Badegästen am Strand. Die Bädergemeinschaft der Insel freute sich über gewohnte Zuwachsraten. Dann starben die Robben. Zunächst am Strand der Ostseeinsel Anholt, später an der Nordseeküste. Dann auch auf Sylt. Und in den Schlagzeilen standen nicht mehr die Nackten, Schönen und Reichen, sondern Bilder dahinsiechender Meeresbewohner.


Der Erklärungsbedarf war groß, und so kam Sylt zu seinem ersten Umweltbeauftragten. Nun war das Image der Insel angekratzt, denn wen kümmerte es schon, dass das Robbensterben nicht – wie die gängige Erklärung lautete – durch den Schadstoffeintrag in die Nordsee ausgelöst wurde, sondern Ergebnis einer eingeschleppten Viruserkrankung war. Doch es dauerte nicht lange, bis neue Horrormeldungen auftauchten: Algenpest an der Nordseeküste; Kentern einer Bohrinsel; durch die Nordsee driftende Pestizidbeutel.


Die Nordsee ist nicht nur ein Urlaubsgebiet für die Industrienationen mit einem der interessantesten und empfindlichsten Ökosysteme der Erde, dem Wattenmeer. Sie ist auch Verkehrsweg, Kloake, Mülldeponie, Endlager. Vor dem Hintergrund hat dieses Meer so etwas wie Glück mit „der Insel“ des Jetset. Der erwartet äußerlich intakte Verhältnisse. Umweltprobleme stören empfindlich. Das Publikum könnte sich abwenden. Das Produkt musste nachgebessert werden. Zwar kündigten die Anrainerstaaten seit Mitte der achtzigerJahre regelmäßig entscheidende Maßnahmen zur Entlastung der Nordsee an, Taten lassen sie freilich selten folgen. Die nächste Nordseeschutzkonferenz kommt bestimmt.

Wenn das Image flöten geht, wie kann man der Öffentlichkeit klarmachen, dass das Meerwasser an Sylts Stränden vom Salzgehalt abgesehen stets Trinkwasserqualität hatte? Robbenkadaver und Algenschaum passen nun mal nicht zu Trinkwasserwerten. Gute Meßergebnisse sind dann nicht mehr zu vermitteln.

Proteste gegen die Metastasen der Wohlstandsgesellschaft haben auf Sylt Tradition. Schon 1971 wurde Klara Enss, vormals Schaspielerin und Inhaberin einer Künstlerpension in Braderup, durch ihren Widerstand gegen das Atlantis-Projekt weithin bekannt: das Bauherrenmodell für einen 3000-Betten- Komplex gigantischen Ausmaßes blieb Westerland erspart. Die von Klara Enss ins Leben gerufene Bürgerbewegung gegen die touristische Überflutung ihrer Heimat, der „Sylter Ratschlag“, fusionierte 1989 mit Naturschutzgemeinschaften und Heimatverbänden und mündete in das „Integrierte Inselschutzkonzept“. Der Vorschlag stammte vom damaligen schleswig-holsteinischen Umweltminister, Bernd Heydemann.

Wer die Aktion „Sylt Dosenfrei“ zu Fall brachte

Die von Haus aus gutsituierte Sylter Protestbewegung, eine bemerkenswerte Allianz von Privat- und Geschäftsleuten, sollte als Ideenlieferantin in die kommunale Arbeit eingebunden werden. Das ist gelungen. Doch haben die Mitstreiter gelernt, wie schwer es ist, ihre Ziele durchzusetzen. Klara Enss, die zornige alte Dame des Widerstands auf Sylt, hat zwar nicht resigniert, „aber mit 72 Jahren ist es Zeit, die Verantwortung jüngeren Leuten zu übergeben“, sagt sie. Die großen, nicht allein symbolträchtigen Vorhaben waren nicht durchzusetzen. Die Aktion „Sylt Dosenfrei“ scheiterte zunächst an Aldi, entscheidend an der Handelskette Spar. Auf Föhr hatte die Initiative gegen die Weißblechbehälter Erfolg.

Wie beim bundesweit eingeführten Dualen System wird auch auf Sylt der Müll grob vorsortiert in gehabter Manier deponiert. So entsorgten auch die Einheimischen ihr schlechtes Gewissen. Dabei wurde auf der Insel eine viel weitergehende Mülltrennung nachgedacht. Bei jährlich rund 2,8 Millionen Übernachtungen und knapp 22.000 Einwohnern – nicht zu vergessen die Tagesgäste – ist es kein Wunder, dass sich das Problem der Müllbeseitigung auf Sylt zugespitzt hat. Die einzige Deponie in Munkmarsch muss voraussichtlich zwischen 1996 und 1998 geschlossen werden. Insider munkeln auch von 1995.

Außerdem wurde versäumt, sie zum Grundwasser hin zu versiegeln. Roland Klokkenhoff, Umweltschützer und Experte für Ver- und Entsorgungsprobleme der Insel meint: „Wenn uns Informationen vorenthalten und Gutachten als Verschlußsache behandelt werden, versanden unsere Bemühungen“. Und wie geht’s nun weiter? Nun, „die Deponie gehört dem Kreis Nordfriesland.“

Vorbildlich ist dagegen die Ausstattung der Insel mit Klärwerken. Derzeit werden die letzten Klärstufen nachgerüstet, zum Beispiel zur Phosphatausfällung. So wird der Nährstoffeintrag (ein Mitverursacher der alljährlichen Algenblüte) ins Wasser reduziert. Hier haben die Sylter Kommunen erreicht, was sich im großen Stil auf dem Festland nicht oder nur schleppend durchsetzt.

Die Besiedlung ist großes Problem. Die fortschreitende Bebauung Sylts lässt sich weder aufhalten noch mit Hilfe des „Integrierten Inselschutzkonzeptes“ in geregelte Bahnen lenken. Was vom Umweltminister als Instrument zur Steuerung lokalen Geschehens durch Beteiligung verschiedener Interessengruppen gedacht war, frißt sich auch hier im kommunalen Klüngel fest. Klara Enss: „Wir sind der Sand im Getriebe. Ich habe 25 Jahre gekämpft. Doch der Baumboom geht weiter. Er findet nur anders statt. Es wird verdichtet. Nehmen Sie das Lister Kurhaus. Das soll jetzt mit Apartments aufgefüllt werden. Und für das Kurhaus in Hörnum gibt es auch schon Pläne. Es wird mit Apartments umwickelt.“ 300 Betten sind geplant.

Jetzt stehen die 600 Hektar des Flugplatzes (noch im Besitz der Bundesliegen- schaft) zur Debatte. „Die Bau- und Immobilienfirmen geben hier endgültig den Ton an“, berichtet Klara Enss, und Roland Klockenhoff ergänzt: „Wir müssen für unsere Insel und die Natur einen Belastungsstopp erreichen. Die Sylter müssen entscheiden: mehr bauen, höhere Gästezahlen oder die Landschaft schützen, die Umwelt entlasten.“ Zusammen mit dem Heimatverein Söl’ring Foriining fordern sie eine Denkpause. Doch fällt denken schwer, wenn das Geld lockt.

Und wie steht’s mit dem Trinkwasser? Die Nitratbelastung liegt zwischen 20 und 30 Milligramm pro Liter; EG-weit sind 50 mg/l erlaubt. Kritische Ärzte warnen für Kindernahrung bei Werten, die zehn mg/l übersteigen. Im Grundwasser unter dem Flugplatz und in einem Wenningstedter Brunnen wurden bereits Pestizide nachgewiesen.

Beim Naturschutz kommt es vor allem auf die Sicherung der Dünen an, die entscheidend für den Bestand der Insel sind. Deshalb haben die Aktivisten vom „Integrierten Inselschutzkonzept“ sämtliche Pfade durch die Dünen kartographiert und einen Plan zur landschaftsschonenden Lenkung der Besucherströme von einem Ingenieurbüro entwickeln lassen. Das ist ein Meilenstein für den Naturschutz auf Sylt, im Grunde jedoch eine überfällige Maßnahme, denn die Naturschutzgebiete der Insel zählen zu den ältesten Deutschlands. Die Amrumer Odde ist bereits seit Jahrzehnten abgeriegelt. Skeptiker geben zu bedenken, dass der Natur durch die Ausdehnung der Urlaubssaison weit über die Sommermonate hinaus die nötige Ruhe- und Regenerationsphase fehle.

Auch der Autoverkehr müsste eingedämmt werden, da die Abgaswerte in „Spitzenzeiten den Status Westerlands als Nordseeheilbad gefährden“. Das allein wäre Grund genug, dieses Reizthema anzupacken. Ein wirksames Konzept zur Reduzierung war jedoch mit den beiden Monopolisten, der Deutschen Bahn und der Sylter Verkehrsgesellschaft, bislang nicht auf den Weg zu bringen.


„Nicht daß wir erfolglos waren“, fasst Klara Enss zusammen, „aber ich sehe keine Wende. Die entscheidenden Dinge kriegen wir nicht durch.“ Das gilt auch für die Entlastung des Meeres. Anläßlich der dritten Internationalen Nordseeschutzkonferenz 1990 vereinbarten die Nordsee Anrainerstaaten in Den Haag, den Stickstoffeintrag in die Nordsee binnen fünf Jahren zu halbieren. Bereits 1993 war klar, dass dieses Ziel keinesfalls erreicht wird. Dennoch gibt es kleine Erfolge. „Nur nutzt es wenig, wenn der Gewässerschutz nur sektoral betrieben wird“, warnt Karsten Reise von der Sylter Niederlassung der Biologischen Anstalt Helgoland in List. „Denn bisher haben Nährstoffeintrag und die Belastung der Nordsee mit Schwermetallen einen bestimmten Level ergeben, auf den sich das Ökosystem eingestellt hat. Es ist schwer, die einander überlagernden, sich gegenseitig maskierenden Effekte zu verstehen und abzusehen, was passiert, wenn der eine oder andere Eintrag in die Nordsee plötzlich zurückgeführt wird.“ Vermutlich würde eine prompte Minderung der Nährstoffzufuhr in die Nordsee bei einem konstanten Zufluß von Schwermetallen zu einer Vergiftung der Meeresbewohner führen, weil sich die eingeleiteten Gifte dann auf weniger Biomasse verteilen. So treiben nicht nur die Algen in der Nordsee, sondern auch die Diskussion um den Gewässerschutz bizarre Blüten

Die größten Probleme, die Überdüngung des Meeres und die Luftverschmutzung, wurden durch die Anrainerstaaten überhaupt nicht gelöst oder mit eher symbolischen Maßnahmen (Beispiel: Katalysator) übergangen. Unterdessen verschärft sich der Uberlebenskampf in der Nordsee. 43 Tierarten sind bereits aus ihrem Lebensraum verschwunden. Das große Fressen zu Wasser, zu Land und in der Luft hat begonnen. Die Seeschwalbe ist von der Möwe verdrängt. Noch vor wenigen Jahren zählte die Pfeffermuschel zu den Bewohnern des Watts; jetzt sind ihre Schalen für Muschelsucher ein seltener Fund. Andere Muscheln, Wattwürmer und Krebse weichen der wuchernden Grünalge. Zonen komplett sauerstofffreien, abgestorbenen Meeresgrundes breiten sich aus.

„Es gibt zwei Fetische“, sagt Roland Klockenhoff, „die kriegen wir aus unseren Köpfen nicht raus: den Investor und das Wachstum.“ Wie kann sich auf dem europäischen Festland etwas bewegen, wenn es im kleinen, auf einer Insel mit knapp 22000 Einwohnern, derart schleppend vorwärtsgeht?

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