Die sentimentale Seite der Zahlenfüchse

Warum ringsum mit modernen Booten beschäftigte Yachtkonstrukteure wie Doug Peterson und German Frers Klassiker segeln.

Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass sich Protagonisten der High Tech Regattaszene, die Konstrukteure exquisiter Tourenboote, die Yachtcouturiers repräsentativ großen Segelspielzeugs für Costa Smeralda oder Côte d’ Azur wie der Argentinier German Frers und sein kalifornischer Kollege Douglas Peterson mit uralten Holzbooten beschäftigen. Frers und Peterson leben in der Welt modernen Yachtbaus. Seit Jahrzehnten beschäftigen sie sich mit der Konzeption der nächstschnelleren, nutzwertigeren, nochmals pflegeleichteren und möglichst wartungsarmen Avantgarde. Ihre Entwürfe entstehen mit Hilfe von Finite Elemente Analysen und Computational Fluid Dynamics, der simulierten Darstellung der Belastung von Bauteilen und Strömungsverhältnissen an Rümpfen, Kielen, Ruderblättern oder Takelagen. Gebaut werden die Schiffe im Prinzip wie das Leitwerk eines Airbus in Faserverbundwerkstoffen. Yachtbau im heutigen Stand der Technik ist nüchterne Mathematik, Chemie und Materialkunde. Für Charme, Sentimentalität geschweige denn Nostalgie ist da kein Platz.

Frers, der einstige Think Tank der italienischen Il Moro und Prada America’s Cup Syndikate, Hauskonstrukteur der in den vergangenen Jahren rasant modernisierten Nautor’s Swan Flotte von 42 bis 130 Fuß, Architekt viel beachteter Trendsetter der Marke Wally von der verblüffend aufgeräumten „Genie of the Lamp“ bis zum neulich aufgetakelten 98 Füßer „Y3K“ des Hamburger Reeders Klaus Peter Offen, denkt an gestreckte Wasserlinien mit hohlwangiger Bugpartie hinter nahezu senkrechtem Vorsteven und breitem Achterschiff. Die formstabilen Rümpfe kommen mit wenig Blei aus laufen und besonders bei halbem Wind ausgezeichnet. Frers zeichnet jollenartig flach gehaltene Unterwasserschiffe, abgespeckte, backstagslose Takelagen, unter denen man auch große Boote mit einer Hand lässig durch den Wind bringt.

Frers segelt seit Jahren, ohne dass er groß darüber spricht, einen Klassiker von 1908. Die 8 mR Yacht „Folly“ zeichnete und baute der berühmte Konstrukteur und Werftinhaber Charles Nicholson (1868 bis 1954) als Doyen angelsächsischer Yachtkonstruktion damals für sich. Ein flachbordig nasses, haarsträubend umständliches, rankes, sensibles Wassersportgerät, mit filigranen Überhängen, Klüverbaum und generöser Gaffeltakelage. Bei leichter Brise macht “Folly“ Spaß, bei mittlerem Wind wird sie zur Herausforderung. Frisch es auf, flüchtet man mit ihr sicherheitshalber hinter die nächste Hafenmauer. „Ich mag dieses Boot“ sagt der zurückhaltend distinguierte Argentinier, dessen Scheu schon mal als Arroganz missverstanden wird. „Alles daran ist zweckmäßig, nötig, richtig. Folly hat keine Klampe zu viel. Von ihrer Schlichtheit kann ich als Konstrukteur nur lernen“ meint der 67-jährige. Für Frers sind der Yachtbau unserer Tage und der annähernd  hundert Jahre alte Klassiker zwei Seiten der gleichen Medaille.

Mit Doug Peterson über Boote reden, ist nicht einfach. Zu lange ist er im Geschäft, um sich mitzuteilen, vielleicht auch schon ein bisschen müde. Peterson hat keine Lust auf Küstenklatsch, Namedropping und die übliche Stegsegelei. Ein introvertierter, verschroben wirkender Eierkopf, der sein Konstruktionsgeschäft viele Jahre zwischen Pizzaschachteln, Burgerdosen, Cokebechern und aus seinem legendär unaufgeräumten Auto führte. Eine Startup Type, die mehr in der Zukunft und gedanklich auf dem Wasser lebt und folglich für Äußerlichkeiten oder die Gegenwart wenig Zeit und Lust hat. Im Unterschied zu Frers hat sich Peterson kaum für Nebensächlichkeiten wie Haarschnitt oder ein richtig sitzendes Sakko interessiert. Peterson ist eher ein Freund des universell getragenen Sweaters.

Die Karriere des Kaliforniers begann 1973 mit dem Paukenschlag namens „Ganbare“, einem so genannten Eintonner der International Offshore Rule. Das Schiff überzeugte bei verschiedenen Seegangsbedingungen am Wind. Mit konsequent in die Formel gezeichneten Booten wie „Gumboots“, „Eclipse“, „Moonshine“, „Ragamuffin“ oder „Yeoman XX“ startete Peterson durch, nicht unbedingt schönen Trendsettern, die nur netto mit einer vielköpfigen Mannschaft auf der Kante funktionierten und allenfalls von Könnern bei viel Wind havariefrei über die Regattabahn gebracht wurden. Peterson war number cruncher, einer der ausgebufftesten Tüftler für die IOR vermessene Hardware des seinerzeitigen Hochseesegel-Rennstalls. Wie Frers brachte er es zur Meisterschaft, seine Konstruktionen auf dem Papier gezielt langsamer erscheinen zu lassen, als sie waren. Ein seelenloses, kurzlebiges, ein abgekochtes Geschäft mit Rechenschieber und den kleinen schwarzen Zauberkästen von Hewlett Packard. Sie setzte die Verinnerlichung geschwindigkeitsbesteuernder Faktoren und die intellektuelle List an der Lücke voraus. Bei Peterson knobelten und übten sich Kapazitäten wie Bill Tripp Junior, John Reichel und Jim Pugh für die nächsten Eintagsfliegen der Regattabahnen. Später grübelte Peterson für Bill Koch über „America3, an „Black Magic“, später eine Weile für den exzentrischen Modekaufmann Patrizio Bertelli an „Luna Rossa“.

Peterson zeichnete für den finnischen Kompositspezialisten Baltic, manche luxuriöse Hochseelokomotive der Marke Jongert, für Comar, Franchini und die italienische Nobelmarke Solaris. Was könnte so einen Mann begeistern und wie bringt man den einstigen Shooting Star des Konstruktionsgeschäfts zum reden? Peterson ist anlässlich der Panerai Classic Yacht Challenge mit „Tamara IX“ nach Imperia gekommen. Die Annahme, dass es sich dabei um eine Freundin handelt, wäre eine Übertreibung, denn die 15,40 Meter lange Schönheit nimmt seit zehn Jahren mehr Platz in Petersons Leben ein, als eine neue Liebe gemeinhin die Aufmerksamkeit eines Mannes beansprucht. Petersons Affäre ist Baujahr 1933 und wurde bei der Soon Slip & Baatbyggerie für den Osloer Versicherungskaufmann Halfdan Hansen nach einem lokalen Regelment nach Plänen von Christian Jensen gebaut. Darüber kann Peterson endlos reden, über die kongeniale Partnerschaft zwischen dem Bootsbauer Jensen und dem verkaufstüchtigen Segeltalent, Gentleman und Yachtkonstrukteur Johan Anker damals, 1905 bis 15. Ehe sich der Besucher versieht, hockt er mit dem vorhin noch unzugänglichen Kalifornier im schnittig schlanken, weiß gestrichenen Gebälk von „Tamara IX“. Peterson kaufte „Cloud Nine“, die zwischendurch mal „Annie“ und „Rigoletto“ geheißen hatte, 1998 in reparaturbedürftigem Zustand an der amerikanischen Westküste und verfrachtete sie zur Cantiere Navale dell’ Argentario“ nach Porto Santo Stefano, wo vermögende Römer oder Mailänder ihre Nautiquitäten von Frederico Nardis Bootstischlern zurecht machen lassen. Hier ist die Frage, wie viele Lira, Dollars oder Euro eine Arbeit kostet, nachrangig zur Qualität. Weil es bei einem Schiff dieser Güte nicht langt, es von frevelhaften Umbauten, Änderungen, morschem Holz oder dem Aluminiummast zu befreien, flog Peterson nach Norwegen und recherchierte im Osloer Schifffahrtsmuseum und in der dortigen, ausgesprochen Traditions-verbundenen Segelszene die Geschichte seiner Kostbarkeit. Anhand ihrer Schwesterschiffe rekonstruierte er das Interieur.

Wer mit Kajütbooten Panoramablick, eine U-förmige Dinette, all die fragwürdige Zweckmäßigkeit moderner Wohnmobile verbindet, dem erscheint der spartanische Ausbau mit steiler Stiege, Sitzbank back- und steuerbord, Spinden, Skylights und Vorluk wie eine schiffig getischlerte Meditationszelle, in der man ziemlich gut mit sich auskommen sollte, um darin zu entspannen. Einziger Stilbruch sind die unzähligen kleinen Plastikbüchsen für „Cellphones“, „Tools“ und was ein Kalifornier im Mittelmeer an Bord so braucht. Doch geht es im ligurischen Meer mal zu Sache, wäre es doch schade, wenn die großen und kleinen Jungs daheim nicht anrufen können und ihren Frauen oder Freundinnen erzählen, was die eigentlich schon wissen. Das sie auf dem Meer sind, glücklich und es Wind gibt.

Gut sieben Jahrzehnte seit dem Stapellauf hockt der bärtige kalifornische number cruncher Doug Peterson in seiner köstlichen musealen Welt und ist nicht mehr zu bremsen. Er erzählt vom chronisch unterschätzen Bootsbauer und Johan Anker Kompagnon Christian Jensen, die produktive Zusammenarbeit der beiden, die viele, bis heute weltweit geschätze Schiffe, darunter Dennis Conners Anker & Jensen Werftbau „Cotton Blossom II“ von 1925 hervorbrachte, und spekuliert über das Ende der kongenialen Partnerschaft, begeistert sich für das Talent des Bootskonstrukteurs Jensen, der 1918 Roald Amundsens Expeditionssegler „Maud“ für eine mehrjährige Drift durch das arktische Eis gezeichnet und gebaut hat.

Mit „Tamara IX“ ist der introvertierte Zahlenfuchs und Schöpfer mancher Eintagsfliege für die Regattabahnen seglerisch beim Wahren, Schönen und Guten angekommen. Es ist für jeden Zuschauer und Segler ein Fest, die schlichte Norwegerin mit ihrem aufgeräumten Deck, Merkmal und Voraussetzung gediegenen Yachtsports, bei kräftigem Wind die levantinischen Küste entlang brettern zu sehen. Bei „Tamara IX“ wird die elementare Auseinandersetzung mit Wind und Wellen nicht in Kauf genommen sondern gesucht. Wie bei anderen kulturellen, geistigen oder spirituellen Angeboten auch, kommen sogar die Trendsetter der Regattabahnen und luxuriösen Einzelbauten früher oder später zu den richtigen, wahrscheinlich zeitlos schönen Schiffen zurück. Vielleicht liegt es einfach daran, dass Frers, dessen Vater 1926 in Buenos Aires mit dem Entwurf von Segelyachten in bester angelsächsischer Tradition begann, mit dem Metier groß wurde. Sein Kollege Doug Peterson lernte Genuss und die bleibende Versuchung klassischen Segelsports mit den Achtern „Emily“ und „Cherio“ und „Cotton Blossum II“, einer Q-Klasse der amerikanischen Universal Rule, kennen, bevor er, vorübergehend, ins moderne Fach wechselte. Ohne die sepiafarben sentimentale Erinnerung an die seglerisch gewiss gute alte Zeit, den Charme einer längst vergangenen Ära wäre unsere Welt auch auf dem Wasser arm.

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