Mistral: Der Wahnsinnswind
Tiefblauer Himmel, kristallklare Luft, gnadenloser Sturm. Mistral herrscht in der Provence. Die Tiere verdrücken sich, Menschen werden kirre und so mancher Fensterladen fliegt davon. Nach drei, sechs oder neun Tagen ist der Spuk aber vorbei. Zum Abschluß einer Seereise ankern wir draußen vor dem Vieux Port. Sanft vom stetigen Westwind bewegt murmelt der Golf von Saint-Tropez um den Bug des Bootes. Die Sonne verabschiedet sich mit einem farbenfrohen Spektakel hinter der gezackten Kette der Seealpen. Leuchtend lugt die ockerfarbene Kuppel der Église Paroissiale über die bunten Schindeln des Lebenskünstlerdorfs. Nachts wölbt sich der Himmel phänomenal über den letzten Wolken ausgefranster Zirren. Höchste Zeit, einen geschützten Platz im sicheren Hafen zu finden. Entsprechend hart werden die Verhandlungen mit dem Capitaine du Port geführt. Wie vor einer Katastrophe ist sich jeder selbst am nächsten. Der hier anzutreffende prototypische Pariser Rechtsanwalt ganz besonders. Keinesfalls werden wir das Boot wie verlangt quer zum Wind an der Hafeneinfahrt vertäuen. Wir entdecken einen Unterschlupf zwischen großen Motoryachten, bringen dicke Festmacherleinen in die erwartete Windrichtung aus. Dann kommt er, der Boß der mittelmeerischen Stürme. Mit brachialer Wucht fegt er von Port Grimaud heran. Eine furchtbare, anhaltende Böenwalze. Der idyllische Ankerplatz der vergangenen Nacht, der Logenplatz vor Saint Tropez ist eine schäumende Wasserwüste. Der Mistral läßt die Masten im Hafen dröhnen. Zwar sind wir im Hafen sicher, haben aber dennoch Angst. Angst vor der Urgewalt dieses entsetzlichen Sturms. An jeder Küste wachsen die Bäume vom Meer abgewandt. Weil der Wind von dort kommt. Jetzt verstehen wir, warum sich im Süden Frankreichs das Gehölz dem Meer entgegen beugt. Es verneigt, duckt sich vor dem Wind, den die Einheimischen „Maestrale“ nennen. Auszug aus Merian Heft Provence