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Dünnschiffe vor Lemkenhafen

Die Schlank und Rank Regatta wird Anfang Juli vor Fehmarn ausgetragen. Die Segler sind dicke Kumpels, die Schiffe schlanke Heringe. Von Erdmann Braschos Neben schwimmenden Untersätzen wie SUPs, Motor-, Ruder-, Tretbooten, Jollen, Jollenkreuzern, Zwei- oder Dreirümpfern sind nach meiner Ansicht unbedingt zwei wichtige Bootstypen zu unterscheiden: Dick- und Dünnschiffe. Dickschiffe sind bekanntlich eine ringsum kommode Sache und haben unschlagbare Vorteile wie Komfort, Stehhöhe, Toilettenräume und so weiter. Gibt‘s bei jeder Bootsmesse, in jedem Hafen, kennen wir alle. Womit wir bei den Dünnschiffen wären. Das prototypische Dünnschiff ist der klassische Schärenkreuzer. 1907 erfunden, wurde er seit 1908 etwa 1.200 Mal gebaut. Es gibt ihn vom 15-Quadratmeter-Einsteigermodell aufwärts als 22er, 30er, 40er, 55er und so weiter bis hin zum 22-m-Geschoss mit 150 Quadratmetern Segelfläche. Zwar hat ein Dünnschiff deutlich weniger Platz, doch wird dabei übersehen, dass wesentliche Dickschiffthemen wie Stehhöhe und Toilettenbesuch seit 115 Jahren überzeugend gelöst sind. Volle Stehhöhe gibt’s bereits beim 15er im Niedergang bei geöffnetem Schiebeluk und in der Plicht. Für dringende Geschäfte bietet das Dünnschiff unter Deck volle Bückhöhe. Da den meisten Menschen in fensterlos engen Räumen unterwegs eh schlecht wird, kürzt der universell genutzte Eimer die Verweildauer unten derart ab, dass der User bald bester Dinge an die frische Luft zurückkehrt. Ab 17 bis 19 m Rumpflänge gibt es beim 75er unter dem Kajütdach bereits genug umbauten Raum für Stehhöhe und irgendwo zwischen den Schottwänden sogar eine permanent eingebaute Toilette. Das ist schön, muss aber wie beschrieben nicht sein. Dass Dünnschiffe hübsch sind und bereits im Stehen fahren, sieht jeder. Was die Bilder dieses Beitrags nicht so recht verraten, ist der Segelspaß. Dünnschiffsegeln ist so rattenscharf wie mit einem motorisierten Go-Kart über den Asphalt zu schrubben. Die Nähe zur Piste macht die zuvor nur leicht schöngeredeten Bordlebensqualitäten derart wett, dass für Dünnschiffer nur Dünnschiffe infrage kommen. Das ist, zugegeben, eine Segler-Weltanschauung. Weltanschauungen kommen durch Prägung zustande. Meine begann Mitte der Siebzigerjahre, als mein Vater mit meinem Bruder und mir mit so einer Feile in der marginal höheren Tourenausführung mit 70 statt 50 cm Bordwand so hurtig von Travemünde via Skagen nach Norwegen segelte, dass da oben in den Fjorden Zeit zum Trollegucken blieb. Ein anderer Ritt führte über Großenbrode und Klintholm in einem Aufwasch durch den Abenteuerspielplatz Ostsee zu den Ålandsinseln, nach Turku und zurück. Von einer halben bis 3 Windstärken war es das seglerische Nirwana. Ab 3 1/2 von vorne wurde es ernst und nass. Täglich informierte Rügen Radio mit dem besten deutschsprachigen Wetterbericht über das, was auf uns zukommt. Zweckmäßiges Signalrot statt 1970er-Orange Anno 1974 holte der Fehmaraner Reetbauer Georg Milz sein erstes Dünnschiff nach Lemkenhafen. Die Siebziger-Trendfarbe Orange wurde durch zweckmäßiges Signalrot ersetzt. Damit wird ein Dünnschiff im üblichen Grau der bewegten Ostsee bei Schietwetter besser gesehen. Für nasse Fronteinsätze wie Vorsegelwechsel hatte Milz mit seinem jüngeren Bruder Hans einen willigen Vorschoter. Ich fand den Wäschewechsel vorn in der Ostsee interessanter als Latein und Mathe. Hans segelt heute einen glänzend im Lack stehenden 15er. Soviel zum Thema Prägung. Georg Milz hat seitdem einige Dünnschiffe, 15er, 22er, einen herrlichen 40er und moderne Varianten gesegelt. Beim hundertjährigen Schärenkreuzer-Jubiläum in Schweden schlug Milz vor, sich im nächsten Sommer mal bei Fehmarn zum Segeln und abends auf ein Bier in Lemkenhafen zu treffen. Daraus wurde 2009 die erste Schlank und Rank Regatta. Bodenständige Segelsause Es pfiff aus Ostnordost, dass die Schafe sich alle im Lee des Deichs auf die Wiesen hockten und die 30 Teilnehmer was erlebten. Die Segelfreunde – darunter ich mit meiner 55er-Tourenschäre – erschienen mit 16 qm Angstlappen und zweimal gerefftem Groß last minute vor dem Start. Es war eine schöne bodenständige Segelsause. Und so ist es all die Jahre auch geblieben. Berliner, Bayern, Lübecker, Hamburger, Kieler und Neustädter kommen mit und ohne Boot zum Dünnschiffern, Gucken und Träumen. Sie segeln zwischen Orth, Heiligenhafen und dem „Kleiderbügel“, wie die Fehmarnsundbrücke liebevoll genannt wird. Auch wenn da mancher frech wie Jimmy Spithill startet, geht es auf der Bahn überwiegend zivil zu. Vielleicht liegt es daran, dass zunehmend Frauen wie die versierte 15er Seglerin Ulla Prötel an der Pinne hocken oder als Vorschoterinnen mit einem Machtwort mäßigend auf ihre kleinen Jungs einwirken. Was da in der Vorstartphase an Bord genau läuft, weiß ich allerdings nicht. Abends wird passabel gegessen, genug getrunken, im idyllischen Hafen bis in die Morgenstunden hinein gefeiert, gequatscht und Dünnschiffe geguckt. Ein weiterer, bislang nicht erwähnter Vorteil der Dünnschiffe ist ihre schmale Plicht. Das macht das Event schön kommunikativ, weil abends keiner freiwillig an Bord bleibt. Alle hocken auf den himmelblauen Bänken an Land oder im Bierzelt des Seglervereins Lemkenhafen. „Der Club wird wie schon in den Jahren zuvor wieder für den Regattazinnober allgemein zugänglich sein“, kündigt die SVLF-Vorsitzende Katja Jensen-Kamph an. So eine Dünnschiff-Meise wird in der Gruppe Gleichgesinnter am besten gepflegt. Es wäre schön, wenn weitere Yngling, Soling, Drachen, 5,5er, H-Boot und Schärenkreuzersegler oder Freunde artverwandter Boote kämen – so wie die Ylva, Molich X, Smaragd oder Tourenschärenkreuzer wie S30 oder Lotus. Das sind alles Dünnschiffe, wenn auch nicht mit dem Längen-Breitenverhältnis der schwedischen Originale und aus Plastik statt Holz. Das wird nicht so eng gesehen. Es geht ums Segeln bei der Schlank und Rank Regatta. Eine Weile kam Jan Budden mit seiner fliegenden Untertasse, einem modernen formverleimten 20er-Jollenkreuzer namens „Glückskind“. 7 3/4 mal 2 1/2 m bei 730 kg sind jetzt nicht direkt schlank und rank, aber bei leichtem Wind schnell. Zwar ist der Budden mit seinem Killerspinnaker und einem Haufen Jungs oder Mädels auf der Kante bis drei Windstärken auf der Regattabahn echt nervig. Trotzdem unterhalten wir uns abends immer freundlich. Samstag, den 8. Juli 23 wird 12 Uhr ein schöner Lauf in den Nachmittag hinein gesegelt. Gestartet wird auf der Orther Reede im Schutz der Landzunge von Krumm Steert. Die Klassiker werden nach dem bewährten KLR System des Freundeskreises Klassischen Yachten gewertet, moderne Boote nach Yardstick. Das sorgt für eine gewisse Gerechtigkeit und gibt mehr Souvenirs/Gläser mit Gravur. Da der Klimawandel im bislang windsicheren Fehmarnsund schon furchtbare Bodenseeflaute mit üblem Herumstehen beschert hat, wäre es schön, wenn jeder Teilnehmer zur Schlank und Rank Regatta etwas Wind mitbrächte.

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Der aparte Anachronismus

1907 in Schweden erfunden, in den Zwanzigerjahren in Deutschland eingeführt, ist der Dreißig Quadratmeter Schärenkreuzer seit den Fünfzigerjahren der Evergreen süddeutscher Seen. Längst gilt das Segelboot als schwimmendes Wochenendhaus, wo man mit daheim vertrauten Annehmlichkeiten an Bord Abstand vom Alltag findet. Bereits auf einem kleinen bis mittelgroßen Touren- und Familienurlaubsboot kann man kochen, essen, duschen und schlafen, neuerdings sogar Fernsehen oder im Internet surfen. Da das moderne Freizeitboot zunehmend unter Komfortgesichtspunkten, also von innen nach außen gedacht und gebaut wird, ist es hochbordig, voluminös und achtern etwas breit. Mit jedem von Modellzyklus zu -zyklus zugefügten Zentimeter Bootsbreite und -höhe schwindet allerdings der Kontakt zum Wasser. In der beinahe vergessenen aristokratischen Ära des Segelns gab es eine klare Teilung zwischen Segeln und Landleben. Anfang des 20. Jahrhunderts waren Segelboote Daysailor, wurden wie das Pferd für den Jagdausflug, wie ein Golf-, Hockey- oder Tennisschläger für die konzentrierte Ausübung des Sports benutzt. Zum Faulenzen oder Feiern gab es das Club- oder Sommerhaus an Land. Für Segler, die wissen, dass ein Boot höchstens zwei der vielfältigen, einander oft ausschließenden Erwartungen erfüllen kann, ist der mittlerweile 99 Jahre alte Schärenkreuzer die erste Wahl. Die heute in Süddeutschland beliebte 30 Quadratmeter Klasse ist etwa so lang, wie ein übliches 40 Fuß Kompaktboot. In der Kajüte stehen, Duschen, zu sechst im Salon zu Abend essen lässt sich zwischen den schnittig schlanken, ganze sechzig Zentimeter hohen Planken jedoch nicht. Mit einem Schärenkreuzer kann man nur richtig segeln und sich abends im Club bei einem Glas Wein am Anblick des filigranen Renners erfreuen. Für Christian Dornier beispielsweise, er segelt ein natur lackiertes Holzboot in modern formverleimter Bauweise Baujahr 1993, den Stuttgarter Architekten Professor Joachim Frowein, er hegt und pflegt ein traditionell geplanktes Abeking & Rasmussen Schiff von 1930, den Schauspieler Horst Janson, er studierte an Bord seiner 1928 in Schweden getischlerten Antiquität auf dem Starnberger See manche unterhaltsame Bühnen- und Fernsehrolle ein, oder den süddeutschen Unternehmer Artur Schwörer, der sich am besten im Schlachtgetümmel der Regattabahnen an Bord seiner 1984 getischlerten „Acrissa“ von der Beanspruchung durch die weltweit tätige Peri Gruppe erholt, kommt kein anderes Schiff an die Boje. Bereits in den in den zwanziger Jahren schwärmte der Bootskonstrukteur und Werftinhaber Henry Rasmussen für den “hohen feinfühligen segelsportlichen Genuß“ des Bootes. Abeking & Rasmussen tischlerte damals 52 Schärenkreuzer. Der Stuttgarter Robert Magirus hat eine ganz einfache Erklärung für den Reiz des Renndreißigers: „Er läuft immer. Bei wenig Wind und wenn es bläst. Sie können ihn auch wunderbar einhand segeln wenn gerade niemand von der Crew Zeit hat“. Die Ästhetik des Bootes ist für Magirus „ein innerer Wert. Man spürt ihn zwischen dem umlaufenden Süllrand, Pinne und dem kleinen Mahagonideckshaus“ fasst der alte Hase der Schärenszene sein Seglerglück zusammen. Es gibt keinen zweiten Bootstyp, der mit seinen filigranen Überhängen schwebt wie ein Schärenkreuzer. Fünf mal segelte Magirus mit Dreißigern die „Centomiglia“. 1952 gewann er die berühmte Gardasee Langstreckenregatta als Vorschoter. An der schlichten Finesse des Bootes, dem sensiblen Segelgenuss kann man sich jahre- oder jahrzehntelang erfreuen. So werden viele Schärenkreuzersegler mit ihrem Boot alt. Es werden ziemlich runde Geburtstage, etwa anlässlich des letztjährigen Classic Cups vor Langenargen, gefeiert. Die 80 Jahre alte „Marama“ ist einer der ältesten hiesigen Schärenkreuzer. 190 Exemplare zählt die „Internationale Vereinigung der 30er qm Schärenkreuzer Klasse“ allein hierzulande, in Österreich und der Schweiz, wobei der Schwerpunkt mit 151 registrierten Schiffen in Deutschland liegt. Weitere Flotten existieren übrigens seit den Dreißiger Jahren in Ungarn, Südafrika, in den USA, England und natürlich in Schweden. Seit einer Weile ist die ursprünglich schwedische Konstruktionsklasse in unseren Gewässern de facto eine Eintypklasse. Bei aller ästhetischer Extravaganz und seglerischer Rasanz sollen präzise Bauvorschriften fairen Wassersport sichern. Regatten mit 17 Booten vor Friedrichshafen, 22 und 31 Teilnehmern vor Lindau und Bregenz und 45 Bewerber um die Jahreswertung des Reimers Pokals in vergangenen Jahr künden vom sportlichen Wert. Derzeit entsteht am Bodensee das nächste formverleimte Holzschiff. Neulich hat die Rechner gesteuerte Fünfachsfräse der Hamburgischen Schiffbau Versuchsanstalt eine Form zur günstigen Serienfertigung hergestellt, in der Kunststoffrümpfe in zeitgemäß aufgeheizter und hochwertiger Epoxydharz Bauweise entstehen. Die Geschichte des charmanten Klassikers geht weiter. Dank seiner Breite von 2,18 Metern und dem geringen Gewicht von etwa 2,7 Tonnen lässt sich das Boot problemlos mit einem der heute beliebten SUV oder Geländewagen trailern. In der kommenden Saison werden die schlanken Planken ab 12. Mai vor Friedrichshafen anlässlich der Pokalregatta des Württembergischen Yachtclubs um die Bojen gescheucht. Zu den Höhepunkten zählt die Bodensee Langstrecke „Rund Um“ im Juni, der vor Lindau ausgetragene Peri Cup Mitte September, wo abends ungefähr so gediegen getafelt wie tagsüber gesegelt wird, und die Voiles de Saint Tropez genannte Segelwoche Anfang Oktober. Zu diesem gediegenen Saisonabschluss bringt mancher süddeutsche Segler seinen Klassiker mit und takelt zur fête de la mer noch mal in nobler Gesellschaft auf. Beim alle zwei Jahre abwechselnd in der Heimat der Bootsklasse, den ostschwedischen Schäreninseln und der zweiten Heimat, dem Bodensee, ausgetragenen Europapokal, fochten im August vergangenen Jahres 31 deutsche, englische, französische, österreichische, schwedische und schweizerische Mannschaften vor Bregenz ihre Meisterschaft aus. Zum Leidwesen der Lokalmatadoren mit langjährig verinnerlichten Beziehungen zu den örtlichen Windverhältnissen am Dreiländereck zu Füßen des Pfänder wurden sie ausgerechnet von einem Franzosen an Bord eines brutalstmöglich in Australien laminierten Plastikbootes namens „Pinchgut“ geschlagen. Der Skandal schreit nach seglerischer Satisfaktion, welche die Bayern und Schwaben bestens präpariert in Schweden während des 2008 gefeierten hundertjährigen Geburtstags der Klasse im Heimatland der Schärenkreuzer wahrnehmen werden. Übrigens wurden mehr als 1.200 Schärenkreuzer verschiedener Größen, von der 15 Quadratmeter Klasse bis zum 150er, gebaut. Der populäre 30er ist ein mindestens an Deck, idealerweise komplett aus edlen Hölzern getischlertes Kultobjekt aus glänzend lackiertem Mahagoni mit Teakdeck und kleiner Schlupfkajüte. Wem 100 Tausend Euro für einen Neubau zu teuer sind, gönnt sich eines der acht Gebrauchtboote, welche in der Website der Klassenvereinigung für 20 bis 45 Tausend Euro inseriert sind. Seine Eleganz mit gestreckter, über dem Wasser schwebender Bug- und Heckpartie verdankt das Boot der 1907 in Stockholm verabredeten Schärenkreuzerregel, deren rasante Entwicklung in den zwanziger Jahren mit präzis formulierten Bauvorschriften eingefroren wurde. Hugo Stinnes, Prinz Eitel Friedrich von Preußen oder der Reeder Erich Laeisz machten Schwedens charmanten Beitrag zum Segelsport damals in Deutschland und den Staaten bekannt. Sie setzten in den  zwanziger Jahren so begeistert auf die fashionable Regattaklasse, wie heutige Protagonisten des Segelsport in der Mumm 36 Klasse, Farr 40 oder Transpac 52 um die Bojen brettern. Solange die Mehrheit der Bootskäufer auf dem multioptionalen Kompaktboot – in den Staaten „average white boat“ genannt –  immer mehr unterbringen möchte, ragt das noble Viermann Kielboot als aparter Anachronismus von Modellwechsel zu Modellwechsel deutlicher aus der üblichen Freizeitflotte heraus.

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Horizontverschiebung

Hier geht es um eine Insel im Bayerischen Meer, glückendes amphibisches Leben und einen 90. Geburtstag. Und um die Segelyacht Dreamtime. Nach weithin verbreiteter Ansicht gilt ein Boot als entbehrliche Sache. Was nicht zwingend zum alltäglichen Leben erforderlich scheint, steht bei der hinsichtlich Spielzeug vernünftigen weiblichen Fraktion der Familie unter mindestens latentem Rechtfertigungsdruck. Jeder, der sich eine Liebhaberei wie ein Motorrad, einen Oldtimer oder Sportwagen gönnt, kennt diese unschöne Opposition. Bei einem schwimmenden Spielzeug kann sich das zum brüsk formulierten Veto auswachsen: Das Boot oder ich. Der Münchener Fotograf Ulli Seer wurde durch die elterliche Ferienwohnung auf der Fraueninsel im Chiemsee geprägt. Er ist etwa so lange auf dem Wasser unterwegs, wie er schwimmen kann. Als Fünfjähriger takelte er einen Ruderkahn mit einer Zeltplane als Segel auf, wagte sich in einer lokalen Bootsklasse wie dem sogenannten Chiemsee-Schratz weiter raus und bretterte in den siebziger Jahren als Student mit einer flotten Jolle über die Regattabahnen. Zur Vermeidung müßiger häuslicher Latenzen entschied Seer sich für eine dem Wassersport zugewandte Frau. Dazu musste er weit, bis ins ferne Australien, reisen. Das ist insofern bemerkenswert, weil das Polyglotte nicht direkt zur Heimatverbundenheit des Bayerischen, soweit wir es verstehen, passt. Auf die zweite und dritte Anomalie kommen wir später zu sprechen. Anfang der Achtziger war Seer klug genug, seine Begeisterung für das amphibische Leben im und am See zugunsten von Beruf, Frau und drei Kindern mit einem behäbigen Jollenkreuzer zu domestizieren. Zunächst. Das ist nicht selbstverständlich, weil die im Märklinidyll der Gegend gelegene Fraueninsel mehr als ein romantisches Fleckerl Erde ist, wie es die Fremdenverkehrswerbung zutreffend beschreibt. Auch außerhalb des mächtigen Klosters ist das Eiland in seiner herrlichen Jenseitigkeit ein Ort, wo es zur dauerhaften Horizontverschiebung kommen kann. Es ist einfach derart schön dort, dass man bleiben und die Nötigungen festländischer Pflichten vergessen möchte. In diesem Idyll wird Seer mit einer der schönsten schwimmenden Skulpturen des Bayernmeeres groß, dem Vierzig-Quadratmeter-Schärenkreuzer Argo V. Das flachbordige Geschoss ist etwa 15 Meter lang und richtig schmal. Eines der extremsten Exemplare der ursprünglich schwedischen Bootsklasse, mit seinen Proportionen 1924 vom besessenen Segler, Architekten und Bootskonstrukteur Gustav Estlander auf die Spitze getrieben. Die schwimmende Extravaganz liegt an einer Boje in Sichtweite der elterlichen Ferienwohnung. „Irgendwann einmal werde ich so ein Schiff segeln“, ahnt Seer damals. Ende der achtziger Jahre scheint es so weit zu sein. Der langjährige Besitzer Erwin Ludescher ist verstorben, und die Angehörigen haben das bedenklich leckende Gefährt vorsichtshalber bergen lassen. Argo steht „aufgebahrt“ in einer Halle, wie Seer zurückblickt. Trügerische Erinnerungen aus verblichener Jugend an den intakten Renner schieben sich tückisch vor die Realität des morschen Gebälks. Gefährlich ist auch der lockende Preis. Die Sicherungen sind bei Seer schon fast draußen, als er Bootsbauer Bepp Heistracher um Rat fragt. „Lass die Finger davon, das ist ein Fass ohne Boden.“ Tja, solche Handwerker gibt es, gradlinige Leute, die dem Liebhaber und Träumer in gebotener Klarheit einschenken und den Horizont wieder geraderücken. Die kostspielige und zeitraubende Sanierung passt nicht in Seers Gesamtlebenskunstwerk als Freiberufler, Familienvater und Segler. Doch der Traum von einem hinreißenden Segelboot für das Bayerische Meer bleibt. Vernünftiger als Seers Jugendliebe „Argo“ Nach einer Weile tapferen Wartens begegnet Seer im Sommer 1990 am Bodensee einem Dreißig-Quadratmeter-Schärenkreuzer. Er ist kürzer, etwas breiter, insgesamt vernünftiger als Seers Jugendliebe „Argo“. Ein vergleichsweise handliches Gefährt aus klar lackiertem Mahagoni, mit einem weißen Dach in der vergessenen Machart alter mit Leinen bespannter Kajüten. Dazu kleine Bullaugen und ein Fach zur Ablage der Leinen, der sogenannte Mastgarten. Ein Gefährt mit musealem Charme. Seer erliegt ihm augenblicklich. Es heißt „Elch“ und hat den entscheidenden Vorzug, dass er angesichts der Bürde absehbarer Instandsetzungsmaßnahmen und alljährlicher Pflege damit zwar in die Knie gehen, aber nicht absaufen wird. Ein traditionell aus waagerechten Planken über senkrechten Rahmen (Spanten) gebautes Boot ist im Prinzip ein Parallelogramm, dessen Bauteile im Lauf der Jahrzehnte etwas Spiel bekommen. Sie verschieben sich und lassen Wasser herein, bis man mehr mit dem Pumpen als dem Segeln beschäftigt ist. Es handelt sich um ein Exemplar der angesehenen Werft Abeking & Rasmussen, wo am linken Weserufer in Lemwerder bei Bremen weltweit gefragte Holzboote entstanden. Werftinhaber Henry Rasmussen berichtet in seinen Memoiren „Yachten, Segler und eine Werft“ über das Jahr 1929: „Ein interessanter Bau war auch der Schärenkreuzer ,Pasch‘ meines Freundes Erich F. Laeisz, Hamburg. Da Herr Laeisz ein großer Förderer der Schärenkreuzer war und gern experimentierte, so kamen wir überein, unseren beiderseitigen Freund Alfred Mylne einen 30er zeichnen zu lassen. Um Mylne in die ganze Schärenkreuzer-Materie einzuweihen, sandte ich ihm meine neuesten Risse. Die Konstruktion von Herrn Mylne hatte viel Ähnlichkeit mit meinen Booten, war in vielem aber doch wieder anders, mehr für englische Verhältnisse zugeschnitten mit geradem Mast und größerer Verdrängung.“ Der Schärenkreuzer ist damals Avantgarde Der Hamburger Reeder Laeisz ist damals in der glücklichen Lage, sich ungebremst von lästigen Sachzwängen wie Budget- und Zeitfragen der Parallelwelt intensiv ausgeübten Segelsports widmen zu können. Er lebt gediegen an der Hamburger Außenalster, seinerzeit ein nobles Suburbia, so gelassen, wie wir es uns heute auf der Fraueninsel denken. Die Horizontverschiebung geht damals so weit, dass Laeisz sich nahezu jährlich eine vielversprechende Rennyacht bauen lässt, sie auf der Alster, auf der Kieler Förde oder zur Abwechslung auch mal in den Staaten vor Long Island segelt. Der Schärenkreuzer ist damals Avantgarde. Eine Marotte der Familie Laeisz ist es, ihren Schiffen einen mit „P“ beginnenden Namen zu geben. Die besegelten Frachtschiffe der Reederei, wie beispielsweise die „Padua“ (heute „Kruzenshtern“), die „Passat“ (Museumsschiff in Travemünde) oder die „Peking“ (wird derzeit für den Hamburger Hafen hergerichtet) werden daher P-Liner genannt. Der Tatsache, dass sie schnelle Reisen absolvieren, verdanken sie den Namen Flying P-Liner. Diesen Namensgebungsbrauch setzt Laeisz privat mit „Pasch“ fort. Sein nächstes Boot heißt „Pan“. Die zweite und dritte Anomalie Seit drei Jahrzehnten ist Familie Seer nun mit der ehemaligen „Pasch“ auf der Reibfläche von Wind und Wasser unterwegs. Am liebsten bei Hochdruckwetterlage, wenn eine gleichmäßige Ostwindthermik nachmittags eine köstlich konstante Brise übers Bayerische Meer schickt. Dann preschen die maronenbraunen Planken durch das grüne Wasser dem Alpenpanorama mit Hochplatte und Kampenwand entgegen. Ein seglerisches Nirwana. Sollte an heißen Sommertagen jedoch die Luft stehen, hängt die australische Fahne schlapp am Heck. Dann dient die „Dreamtime“ als Badeplattform. Womit wir bei der zweiten und dritten Anomalie wären. Der blaue Southern Cross erinnert an die australische Herkunft von Ehefrau Jill. In seinen „Songlines“ hat Bruce Chatwin die Wanderschaft der Aborigines anstelle der Sesshaftigkeit als ideale Lebensform, als „Dreamtime“ beschrieben. Auch passt der Name zur schönen Auszeit auf dem See. Die Töchter Nicola, Daniela und Sohn Benny wuchsen mit dem Boot auf. Es sieht danach aus, als würde der Stammhalter die Segelleidenschaft des Vaters und des Großvaters fortsetzen. Wenn außer Seer keiner Zeit hat, geht er mit „Linoo“ an Bord. „Das ist ein Pointer-Mischling. Meine Tochter Nicola brachte ihn aus Griechenland mit. Er ist zwar schon zweimal über Bord gefallen. Aber ich hab ihn immer gepackt und ins Boot gehoben.“ So ein flachbordiger Renner ist halt schon auch praktisch. Die gute Zeit an Bord lässt die Instandhaltung der Antiquität fast vergessen. Gleich nach der Übernahme des Boots wurden 30 Meter Planken gewechselt und ein neues Deck verlegt. Es hat mittlerweile Patina. Und wenn 2,7 Tonnen Mahagoni über Eiche und Blei auf so gelassen australisch-bayerische Weise in die Familie reinwachsen, kann man auch mal den 90. Geburtstag des Gefährts bei einer konstanten thermischen Brise aus Ost feiern.

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Besuch bei Maria und Henrik

Es ist für Mitteleuropäer nicht immer nachvollziehbar, was der Schwede eigentlich den ganzen Tag so macht. Beim Deutschen ist die Sache ja klar: Er arbeitet, klagt und fährt im Sommer, wenn es da unten nur heiß, fettig und frech teuer ist, zur Badeanstalt des Mittelmeeres. Aber der Schwede? Man erfährt da wenig, was an seinem wortkargen Wesen liegt. Glaubt man der Reklame eines bekannten schwedischen Möbelhauses, gehen irgendwann im neuen Jahr ziemlich synchron die Fenster auf und die Weihnachtsbäume fliegen raus. Dann hört und sieht man wieder lange nichts. Wer mal unter einem Vorwand privater oder geschäftlicher Natur einen Schweden sprechen möchte, bekommt die Störung des häuslichen oder beruflichen Friedens bei der Entgegennahme des Telefonats mit einer Art indigniertem Schweigen zu spüren, als hätte man aus nichtigem Grund an einem Sonntagmorgen halb acht angerufen. „Jo – ho“ heißt es dann, wobei zwischen dem „Jo“ und dem „ho“ eine Pause liegt, in der bis vor kurzem zwei unterschiedlich profitable Firmen in eine große, wirklich unprofitable zusammengelegt wurden. Also, eine Flatrate lohnt bereits beim ersten Telefonat nach Schweden. Natürlich hegt der Schwede gegenüber dem Mitteleuropäer jene unüberwindbare Scheu und Skepsis, wie sie der Deutsche einem levantinischen Teppichhändler entgegen bringt, welcher bekanntlich solange textet und Tee einschenkt, bis die Brücke angezahlt ist. Man braucht bloß in Antalya Urlaub machen, um zu spüren, wie sich das anfühlt. Nur ist der Schwede dermaßen introvertiert, dass er auch mit Landsleuten bloß kommuniziert, wenn es unbedingt sein muss. Die Anlässe sind in dem großen waldreichen Land mit verhältnismäßig einsiedlerisch anzutreffenden Einwohnern selten. Wir erinnern bei dieser Gelegenheit den von etwas gesprächigeren Dänen und gemeinen Norwegern erzählten Witz über zwei schwedische Angler auf einer einsamen Schäre. Nach dem Austausch jeweils eines sparsam hervorgebrachten „hey“ hocken sie stundenlang neben ihrer Angel, bis sich der eine zaghaft erkundigt „hast Du schon was gefangen?“ Da empört sich sein Landmann: „Wir sind doch nicht zum quatschen hier.“ Tja, so unterhaltsam können Dänen oder Norweger zu vorgerückter Stunde nach dem Genuss trinkbaren Bieres nach unserem Reinheitsgebot sein und so ungefähr ist der Schwede. Leider sind wir dem Mysterium, was der Schwede so den lieben langen Tag eigentlich macht, keine Idee näher gekommen. Also sind wir neulich mal nach Stockholm geflogen und von Arlanda über kleine gewundene Straßen und Sträßchen, über Schotterpisten und Waldwege in den Stockholmer Schärengarten zu Maria und Henrik in der Nähe von Åkersberga gekurvt. In Skandinavien duzt man sich pauschal und präventiv, auch wenn man bloß ein bisschen herum gemailt und sich noch nie gesehen hat. Anrufen wollten wir aus bereits dargelegten Gründen nicht. Maria Torsell und ihr Mann Henrik Widstrand haben zwei Kinder, ein paar Tiere und bewohnen ein Haus am Wasser. Wahrscheinlich das prototypisch schwedische Familienglück. Natürlich unternahmen wir die Recherche verdeckt, unter dem glaubhaften Vorwand, wir würden uns bloß für die Boote von Maria und Henrik interessieren. Es sind sehr schöne, herrliche Boote, alte Holzboote mitten aus dem Stockholmer Schärengarten, solche zum schwach werden. Der Wahrheit und Dokumentation halber, mit Fotos lässt sich zwar auch lügen, aber schwerer, wurde die Recherche von einem Fotografen begleitet. Zwecks Akklimatisation war Ulf schon einige Tage mit seinem aufgemotzten Mini Cooper in Schweden unterwegs, was leider kaum auf seinen Tourenwagenmeisterschaftsfahrstil abgefärbt hatte. Kein Anflug dieser senilen Apathie der gemächlich nordischen Straßenverkehrsteilnahme war zu spüren, die sich soeben noch vom Parken unterscheidet. Ulf fuhr schnell, blieb dabei aber mit sämtlichen Rädern auf der Piste, all das immerhin mit eingeschaltetem Licht. Plötzlich meinte das Navigationsgerät, wir wären da. Ratlos standen wir in der Lichtung eines Kiefernwaldes und atmeten tief durch. Zum Wasser hin ein Holzhaus. Die im Garten gehisste Fahne in Landesfarben signalisierte Bewohntsein. Hätte eine Schar blondschöpfiger Kinder mit dem faul in der Wiese lümmelnden Hund gespielt, es wäre wie in der Reklame für diese Mitnehm- und Daheim selber Zusammenbaumöbel gewesen, die wie „Billy“ oder „Björn“ auch alle zwangsgedutzt werden. Der Mini Cooper kühlte knisternd ab, Vögel zwitscherten, doch niemand erlöste uns von der Ungewissheit, ob wir hier richtig, bei Maria und Henrik waren. Anrufen? Um Himmels willen! Wir guckten noch mal aufs Display des Satelliten gestützten Pfadfinders. Tatsächlich, am Kardinalvägen 14 steckte diese Rallyfahne am Ziel. Die Tür zum Holzhaus war offen. Wir klopften. Keine Antwort. Wir klopften noch mal und fragten „Maria?“ „Hey“ rief es irgendwo drinnen. Wir warteten. Keine Maria, kein Henrik. Nur der Hund war herangetrottet und schnüffelte interessiert an unseren Waden, was immer das heißen sollte. Entgegen allem mitteleuropäischen Benimm gingen wir einfach rein, querten zögernd die Diele und standen im Wohnzimmer. „Hey“ rief eine junge blonde Frau aus der Küche nebenan. Geschirr klapperte. „Maria?“ „Yess, I am Maria, coffee?“ Na, geht doch. Natürlich machten wir nicht den Anfängerfehler, jetzt einfach wie der Teppichhändler in Antalya loszuquatschen. Es war die Stunde des zweiten Frühstücks und als Projektleiterin für Handysoftware hatte Maria zwar frei, aber etwas Homeoffice für unaufschiebbare Dinge. Der Laptop summte, das Handy klingelte, mit „hey“ und „jo – ho“ wurde das nötigste besprochen. Schweigend saßen wir am Tisch, mampften etwas von dieser watteartig unzerkäulichen Konsistenz, die der Schwede als „bröd“ bezeichnet. Ulf hantierte mit seinen Kameras und kriegte Ungeduldspickel. Wir blieben cool, guckten in den Garten und runter aufs Wasser, wo Marias und Henriks herrliche Holzboote schwammen. Wir beneideten den abwesenden Gatten ein wenig. Eine so sympathische Frau, das Grundstück und – ach – die Boote erst. Wir zwangen uns so gut wie nichts zu sagen und versanken ein wenig in dieser generell skandinavischen Apathie, was in diesem Paradies ganz gut klappte. Es gab noch mal Kaffee und bei zögernd tastenden Fragen warteten wir ab, was der Schwede eigentlich so den ganzen Tag macht. Nach einer Weile rief Henrik von der Arbeit an und erkundigte sich, ob die „tyska“ da wären, mit Sicherheit auch, ob die Deutschen okay und zum aushalten seien und ob Maria nicht zu viel reden müsse. Nach einer Weile erfuhren wir, wie Maria 1990 als Studentin zehn Tausend Schwedenkronen in „Lilla Spjut“, einen kleinen 15 Quadratmeter Schärenkreuzer von Anno 1920 steckte, statt das Geld bei einem Sommerurlaub mit einer Freundin an der Badeanstalt des Mittelmeeres zu verbraten und die aufdringlichen Südländer abzuwehren, die bei blonden Schwedinnen so beharrlich zu landen versuchen, wie nordische Mücken bei Menschen und Tieren nach einem Regenschauer im August. „Lilla Spjut“ war günstig. Auch bot sie einen abwechslungsreichen Segelsommer. Doch so reell, wie das Gefährt war, so viel gab es auch daran zu tun. Die Ratschläge zur Renovierung kamen von Marias heutigem Mann Henrik, der als gelernter Tischler und tief in der Materie steckender Bootsbastler mit skandinavischer Zurückhaltung und Seriosität, dennoch nicht ungern bei Marias Bootsbaustelle erschien, teils aus Interesse am aparten Schiffchen, zunehmend wohl auch an der Besitzerin des Bootes selbst. Dann wechselten Maria und Henrik zusammen Planken. Während eines elftägigen Segelurlaubs auf dem Mälarsee fügte sich weiteres, wurde aus dem still genossenen Glück der Wunsch nach Familie. „Das Boot ist zehn Meter lang und mit 1,45 recht schmal. Man muss sich mögen, um damit einen Segelurlaub zu machen. Es war herrlich, wir sind zu sämtlichen Schlösser am Mälarsee gesegelt.“ Maria lächelt ihr einnehmendes Schwedinnenlächeln und guckt eine Weile aus dem Fenster. Dann steht Henrik im Wohnzimmer. Es ist Nachmittag und die Zeit vergangen wie im Flug. Ein knappes „hey“. Skeptisch flinke Blicke scannen die sichtbaren Ergebnisse der ganz und gar unschwedischen Gesprächigkeit, die Kaffeebecher, Teller, Krümel, aufgeschlagenen Bücher, Fotoalben und Notizen, als ahne der Gatte die verdeckte Recherche. Jetzt bloß nichts sagen, fragen oder erklären wollen. Ulf hantiert immer noch oder schon wieder mit Bodies und Objektiven. Zwecks Entspannung die Lage gehen wir durch die nasse Wiese den Hang zum Wasser hinab. Die weiße „Lilla Spjut“ schwebt mit ihrem filigranen Peitschenmast wie eine Gondel über dem spiegelnden Resaröström. Wir erinnern Marias Erklärung der zehn Meter Regel, wonach es völlig langt, wenn ein altes Holzboot aus etwa diesem Abstand makellos aussieht. Alles andere wäre pedantisch und ruinös hinsichtlich der vielfältigen Anforderungen, die das Berufs- und Landleben sonst noch so stellt, wahrscheinlich „tysk“ oder – noch schlimmer, schweizerisch – was Maria höflichkeitshalber so nicht gesagt, aber vermutlich gemeint hat. Henriks Schärenkreuzer entstand für die olympischen Segelregatten von 1912 und ist als frühes Exemplar mit zwölf mal 2,50 Metern vergleichsweise breit und flach. Wie ein Stumpf ragt der kurze kräftige Mast der Gaffel getakelten Antiquität über das braun glänzende Gefährt. Er kaufte es vor 23 Jahren gemeinsam mit einem Freund, hegt und pflegt, segelt und behält „Miranda“ einfach. Nach einem Probeschlag mit „Lilla Spjut“ ist noch etwas Zeit bis zum Abendessen. Er hätte „da noch ein Boot, vielleicht ganz interessant,“ meint Henrik, der jetzt beinahe gesprächig geworden ist. „Ein paar Minuten zu Fuß, nicht weit.“ Okay, gehen wir mal gucken. Es ist ja lang hell im sommerlichen Schweden, trotz der Mücken, die bei uns jetzt in den Abendstunden wirklich zu landen versuchen, wie Italiener bei prototypisch blonden Schwedinnen. Nach einer Weile queren wir einen sommerlich leeren Bootslagerplatz und gehen auf eine schmale lange Bretterbude zu. Die Behausung ist mit gebrauchter Lastwagenplane und verspakter Dachpappe abgedeckt. Eine improvisierte Kegelbahn oder ein Schießstand gar für seltsame Vögel, die es in Schweden ja auch geben soll? Sprach Henrik nicht von einem Boot? „Yesss“ meint Maria. Henrik schließt den Schuppen auf und knipst das Licht an. Mit zögerndem Flackern, nacheinander blinkend beleuchten die Neonröhren ein Gefährt, das wie die sichtbare Hälfte eines aufgetauchten U-Boots in den Schuppen ragt. Wir vergessen die Mücken und ringen um Fassung. „Was ist das denn?“ „Marga“ meint Henrik und präzisiert „Marga IV.“ Das knapp 20 Meter lange, ganze 2,70 m breite Geschoß ist einer der längsten 95 Quadratmeter Schärenkreuzer. Eine federleichte, damals wie heute kostspielig große Rennklasse, in der seinerzeit wenige Boote entstanden und von der es heute noch eine Hand voll gibt. Es entstand 1921 nach einem Entwurf von Tore Holm für Konsul Fredrik Forsberg, einen vermögenden Segelconnaisseur, dessen Haus mitten in Göteborg neulich für einen sensationellen Preis den Besitzer wechselte. Dort, wo U-Boote üblicherweise ihr Sehrohr ausfahren, muss man sich den Bleikiel dazu denken. Damals entwickelten sich die Schärenkreuzer rasant. Die Boote wurden von Saison zu Saison länger, leichter und schneller. Die Bauvorschriften waren wiederholt zu präzisieren und der vermögende Konsul zog mit. Mit „Marga III“ Baujahr 1918 hatte Forsberg nach etwas älteren Baubestimmungen damals ein zweites Boot in Saltsjöbaden, dem Seglervorort von Göteborg. „Ein praktischer Mann“ meint Henrik. „So hatte er an der West- und Ostküste jeweils ein Regattaboot liegen.“ Nach etwa einem Dutzend verschiedener Besitzer im 20. Jahrhundert und zunächst schleichendem, dann unübersehbarem Verfall kaufte Widstrand es 1997 mit dem Ziel, das Torpedo 2001 segelfertig restauriert zu haben. Dieser Plan ist längst aufgegeben und Fragen nach dem erneuten Stapellauf beantwortet Henrik ausweichend mit: „Wenn ich fertig bin.“ Es gibt ja noch den Beruf als Möbeltischler, Maria, die Kinder, die unten vor dem Bootshaus vertäuten Antiquitäten, das Holzhaus, den Hund. Einfach mal faul sein oder ein Buch lesen wäre auch ganz schön. Manche Planke hat Henrik das vergangene Jahrzehnt schon gewechselt. Jeder, der mal eine Tapete unter einer Zimmerdecke angebracht hat, erinnert, wie blöd über Kopf Arbeit ist. Weil Planken wechseln an einem Holzboot etwas mühsamer ist, hat Henrik „Marga“ gedreht und mit dem Deck auf Böcken abgelegt. Am gekrümmten Übergang vom Rumpf zum Kiel, dort, wo beim U-Boot der Turm beginnt, sind noch ein paar offene Rechtecke. „Es ist nicht einfach da. Manchmal musst Du eine ganze Planke noch mal machen, bis sie überall stramm im Schiff sitzt.“ Eine professionelle Bootsbauergang würde die Lücken in einer oder zwei Wochen schließen. Henrik hat sich angesichts der Zeit und Geld Schere für die Zeit, seine Arbeitszeit entschieden. Er denkt in Vierteljahresschritten. So geht er jahraus, jahrein zwei mal abends nach der eigentlichen Arbeit und dem Abendessen mit der Familie und einen Tag am Wochenende zu „Marga IV“. Im Sommer über den kollernden Schotter, im Winter durch den schnurpsenden Schnee und sonst durch den Regen. Das den Bootskörper quer aussteifende Gerippe der Spanten, die Bleche der Bodenwrangen für die Kielaufhängung sind repariert oder durch neues Material ersetzt.Ja, aber hat er denn nach der handwerklichen Arbeit tagsüber dann am Abend nicht mal den Hals voll? Über eine derart blöde Fragte staunt Henrik: „Die Regale, die ich tagsüber in irgendwelche Häuser tischlere, das mache ich für andere, die Arbeit an Marga mache ich für mich.“ Außerdem sei es ein schöner Ausgleich zum Alltag. Er könne dabei am besten nachdenken. Ulf, jetzt bitte mal ein Foto, sonst glaubt das keiner. Henrik kriecht zwischen dem Hallenboden und dem Deck zu einer Luke. Nach etwas levantinischer Animation von Ulf, der jetzt endlich mit seinen Bodies, Bajonettverschlüssen und Objektiven zum Zuge kommt, huscht ein Grinsen durch das ernste Gesicht des 42-jährigen. Und noch eins mit Weitwinkel oder Fischauge mit Maria und dem Kirchenschiff der Spanten ringsum. Da ist Henrik wieder ernst. Dann laufen wir über das mit Pappe ausgelegte Kajütdach nach achtern, winden uns durch die Einstiegsluke in den Deckausschnitt, der mal das Cockpit mit den Sitzgelegenheiten aufnehmen wird und folgen dem endlos langen, zu einem handtaschengroßen Heckspiegel verjüngten Achterschiff, wo eine Halterung für die Landesflagge auf den Rumpf geschraubt ist. Da bringt Widstrand dann an nationalen Feiertagen die Schwedenfahne an. Es sieht so aus, dass Widstrand sie noch oft setzen wird. Eigentlich ganz nette Leute, solche Schweden. Und wenn es unbedingt sein muss, erzählen sie sogar was.