Fairlie Roads
Eine Zeile dreistöckiger Häuser an einer kleinen Bucht in der Grafschaft Ayrshire im Südwesten Schottlands. Die alten Gebäude am nördlichen Ende sind aus grauen, bemoosten Steinen. Daneben neue aus den Achtzigerjahren in üblicher Allerweltsarchitektur, pflegeleicht in Eierschalenweiß, mattem Ocker, schalem Rosa, fahlem Gelb, blassem Rosa oder hellblau verputzt.
Davor ein flacher Sandstrand, wenige hundert Meter lang, außen an den Rändern der kleinen Bucht ein wenig unrein, mit Steinen. Es ist auflaufendes Wasser und die Tide hat etwa die Hälfte ihres üblichen drei Meter Hubs zurückgelegt. Ein frischer Südwestwind lässt kleine Wogen am Ufer nippen. Ein Wochentag am Firth of Clyde. Der Himmel ein verwaschenes Grau tiefer Wolken, mit einem Schimmer Hoffnung auf die Sensation phänomenal im Sonnenlicht leuchtenden Schottlandgrüns. Windjacken und Kapuzenwetter. Es regnet leicht. Die Einheimischen sind entweder bei der Arbeit oder haben sich mit einer Tasse Tee in die Dämmerung ihres Livingroom zurückgezogen. Gelegentlich lässt sich ein Hund in den Parzellen der kleinen Gärten blicken. Doch zur Studie der Tristesse dieses Herbsttages, die sich vermutlich kaum von anderen Jahreszeiten dieser immergrün feuchten Gegend unterscheidet, bin ich nicht gekommen.
Wo die neuen Häuser mit ihren getönten Scheiben und Rauchglasbalkons den Panoramablick auf Fairlie Roads, die Reede der Ortschaft, das Largs Channel genannte Gewässer bieten und dahinter und die Insel Cumbrae weiter draußen. Dort entstanden die Erzeugnisse der Bootsbauerfamilie William Fife and Son. Drei Generationen, die den schottischen Yachtbau weltweit zum Begriff machten.
Etwa hundert Schritte über den feinsandigen Strand sind es in der Mitte der leicht geschwungenen Bucht, vom Ende der Zeile alter Häuser bis zum molenartigen Fundament, wo einst die größte Werfthalle stand. Über diesen Strandabschnitt feinen Sands liefen 1807 bis 1938 rund achthundert Yachten, vom Kutter „Comet“ bis zum Zwölfer „Flica II“ vom Stapel. Regattaboote meist und gediegene Fahrtenboote, die über ein Jahrhundert das Beste des Bootsbaus verkörperten und heute eine beinahe bodenlose Wertschätzung genießen.
Es war ein weiter Weg, denn erst nach etwa fünfhundert Metern bieten die Fairlie Roads drei Meter Wasser. Manches große Erzeugnis der Werft hatte deutlich mehr Tiefgang. Es ist im Zeitalter ausgebaggerter Hafenbecken und moderner Travellifts zwar irgendwie denkbar, dass hier der 160 Tonnen verdrängende Big Class Schoner „Altair“, große Schlitten wie „Sumurun“ oder „Moonbeam IV“, 23-mR Yachten wie „Shamrock“ und „Cambria, 19er, 15er, Zwölfer, Achter und mancher edle Sechser vom Stapel liefen, doch muss man sich schon ganz sicher sein, dass es hier stattfand, um es zu glauben.
Es braucht eine gewisse Vorstellungskraft und die mit Büchern, Erzählungen und historischen Fotos dokumentierte Gewissheit, dass ausgerechnet hier, wo heute die Reihenhäuser auf der Betonbrüstung über dem Strand stehen, die berühmten Fife Yachten entstanden. Nach einer Weile ratlos über den Strand streunender Suche entdecke ich die Reste des einstigen Mastenkrans. Viele Fife Yachten wurden direkt vor der Werfthalle und ihrem Stapellauf auf dem Strand stehend aufgetakelt. Vor der Betonbrüstung entdecke ich zwei Fundamente des Portals der größten Werfthalle und dicke, zu Pollern umfunktionierte Rohre. Abgesehen von etwas Seegras und an Land gewehtem Schaum ist der feinsandige Strand leer, bis auf ein angeschwemmtes Seglerkäppi. „Ancient Mariner“ steht über dem Schirm.
Der Blick hinaus aufs Wasser ist schön, allerdings vom langen Steg der benachbarten Erzverladestation beeinträchtigt. Glasgows Naherholungsgebiet des Firth of Clyde ist landschaftlich immer noch reizvoll, wenn man am richtigen Ufer steht und in die geeignete Richtung schaut. Heute fliegt man in wenigen Stunden für kleines Geld in sonnig-windsichere Reviere wie das Mittelmeer oder die Karibik fliegt. So kann man sich schwer vorstellen, dass die trichterförmige, nach Südwesten in die Irische See übergehende Zufahrt Glasgows die Wiege des Segelsports war. Sie liegt in der nordeuropäischen Einflugschneise atlantischer Tiefdruckgebiete. Um zu begreifen, wie der Yachtbau in der unscheinbar kleinen Ortschaft Fairlie zur Blüte kam und eine bis heute bewunderte handwerkliche Exzellenz erreichte lohnt ein Blick in die Geschichte des Segelsports. Es ist ein Kapitel, dem Liebhaber in der halben, mit Dollars, Pfund Sterling oder Euros gesegneten Yachtwelt nachtrauern. Sie konservieren, dokumentieren es, und setzen es seglerisch fort. Der Blick in die Geschichte des Segelsports und seine Voraussetzungen der prosperierenden Kolonialmacht und Industrienation Großbritanniens lohnt sich. Sie wurde damals schlicht „Empire“ genannt. Denn so unabdingbar wie ausreichend tiefes Wasser zum Segeln ist, benötigt hervorragender Bootsbau großzügige Vermögensverhältnisse und Müßiggang.
In der 1837 beginnenden viktorianischen Ära gelangt die Kolonial- und Supermacht des „Empire“ mit dem Im- und Export von Waren zu Reichtum. Glasgow wird neben London zum wichtigsten, problemlos vom Nordatlantik her anzusteuernden Tor zur Welt. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wird es der Umschlagplatz für Tabak, Baumwolle und Zucker. Glasgow wächst nach London, Paris und Berlin zur viertgrößten europäischen Metropole. Die Förderung von Kohle und Eisenerz im Süden der Stadt, Baumwollverarbeitung und Textilwebereien, der Schiffbau und viele damit zusammenhängende Branchen entwickeln sich rasant. In „Song of the Clyde. A History of Clyde Shipbuilding“ zählt der Industrie- und Schiffsbauhistoriker Fred Walker 392 Werften, von den übrigens heute noch zwei tätig sind. Der weltweit älteste Schlepptank wird 1840 in Dunbarton gegründet.
Froudes Untersuchungen über den Wasserwiderstand, der Ersatz der traditionell durchgängigen Holzbauweise durch die belastbare, leichtere wie platzsparende Mischbauweise aus Holzplanken über Metallspanten wird von einer Werft Greenock seit den 1860er Jahren bei den Rahseglern durchgesetzt. Es dauert nicht lange, bis sie der schottische Yachtbau für seine großen Projekte übernimmt, Fife seine erste Stahlspanten-Biegemaschine (eine steht heute im Scottish Maritime Museum in Irvine) in Betrieb nimmt.
Geschäftlich geschickte Werftinhaber, Kaufleute und Industrielle arrivieren neben dem Adel. Sie kultivieren ihre Lebensart nicht allein mit der Errichtung repräsentativer Residenzen am Clyde oder ansehnlicher Kunstsammlungen. Sie takeln ähnlich wie der Adel auf, gehen mit schnellen Yachten segeln. Die steile Karriere des gebürtigen Iren Thomas Lipton beginnt in Glasgow, wo der pfiffige Unternehmer mit der Eröffnung seines ersten Lebensmittelladens einen gesellschaftlichen Aufstieg beginnt, der ihn Ende des 19. Jahrhunderts zum Fife-Kunden machen wird. Wer kann, lässt den Schmutz und die Enge Glasgows hinter sich, lebt am Firth of Clyde, wo die unterhaltsame Beschäftigung mit Wind und Wellen an Bord schneller Regattaboote zum Lifestyle gehört.
Der erste William Fyfe (1785 bis 1865) stammt aus einer Wagenbauerfamilie und schreibt sich noch mit Ypsilon. Er versucht sich mehr der Neigung als der drängenden Nachfrage halber vermutlich 1803 am Strand von Fairlie im Bootsbau. Damals ist die Verfeinerung des Handwerks von zweckmäßig-haltbaren Fischerbooten und Transportern landwirtschaftlicher Erzeugnisse zum Luxusartikel Renn- oder Fahrtenyacht nicht abzusehen. Fyfe möchte einfach etwas anderes als sein Vater und die Geschwister machen. Wichtig ist ihm auch, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Das versteht sein Förderer James Smith of Jordanhill, der mit der etwa neun Tonnen schweren „Comet“ bereits vier Jahre später einen vom jungen Bootsbauer selbst gezeichneten Kutter übernimmt. Anfang des 19. Jahrhunderts ist das Vergnügungssegeln noch eine abenteuerliche, auch der Vermessung und Erkundung schottischer Gewässer dienende Beschäftigung aristokratischen Zuschnitts.
Bald läuft in Fairlie der 50 Tonnen Kutter „Lamlash“ vom Stapel. Dessen Skipper weiß, wie man den Eigner einer Yacht glücklich macht. Schiffer James Oswald aus Scotstown hält nicht allein das Schiff in Schuss. Bei drohendem Ungemacht von oben schützt er den an der Pinne hockenden Eigner mit einem rechtzeitig geöffneten Regenschirm. „Lamlashs“ Schanz ist von Kanonenpforten unterbrochen, denn während langer Törns, die den Fife Werftbau bis ins Mittelmeer führen, ist gelegentlich entschlossene Selbstverteidigung gefragt. Steeles Standardwerk „Naval Architecture“ bedeutet Fife so viel, dass er die Geburtstage seiner Kinder vorn im Buchdeckel notiert. Dieser Brauch ist sonst bei der Familienbibel üblich. Trotz der visionären Werftgründung und Liebe zum Metier lohnt sich der Betrieb für den ersten Fife in Fairlie kaum. Er ernährt mit Ach und Krach die wachsende Familie, die sich auch mit Nebenjobs wie dem damals in Schottland üblichen Schmuggel über Wasser hält.
Als Fife den Betrieb 1839 an seinen Stammhalter gleichen Namens übergibt, sind am Strand von Fairlie laut May Fife McCallums Baunummernverzeichnis in „Fast and Bonnie“ ganze zehn Schiffe entstanden. Der Fortbestand des Betriebs ist eher einer geradezu schottisch sturen Beharrlichkeit als nüchternem Kalkül zu verdanken. Damals hilft die Schneiderin Janet Fife ihrem Bruder mit einem Darlehen beim Kauf moderner Werkzeuge, eine nicht allein vom ausgeprägten Familiensinn, auch von der Weitsicht kündende Entscheidung. Denn der zweite Fife der Bootskonstrukteurs- und Bootsbauerfamilie, er lebt 1821 bis 1902, wird den Betrieb zum weltweit geschätzten Lieferanten gediegener Yachten machen.
Wie sein Vater hat er das Handwerk zu Hause gelernt. Auch in schwierigen Zeiten bleibt er stur bei seinem Metier, dem Yachtbau. Fife ist sich und seinen Angestellten gegenüber anspruchsvoll. Murks, wie ungenau gehobelte Spanten wird sofort ersetzt. „Trotz seiner harten Hand im Betrieb war Fife beliebt, umgänglich und fair seinen Bootsbauern gegenüber. Er blieb zeitlebens ein bescheidener Mann“ erinnert May Fife McCallum. Das handwerkliche Niveau bleibt selbst in schweren Zeiten oben, wenn damit kein Geld verdient wird.“ „Fiel bei der Fertigstellung eines Schiffes ein Werkzeug auf das Deck, wurde die beschädigte Planke selbstverständlich ausgewechselt. Spaltmaße im Interieur wurden von Fife abschließend mit einer Münze überprüft. Bei zu großen Toleranzen hieß es für den zuständigen Tischler „neu machen.“ Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein erfolgt der Fifesche Bootsbau am Strand von Fairlie unter freiem Himmel. In der Ortschaft, sie bietet abgesehen von etwas Landwirtschaft und Fischerei kaum andere Verdienstmöglichkeiten bietet, dreht sich alles um das anspruchsvolle Handwerk, dessen Geschick von den Großvätern über die Väter an die Söhne weiter gegeben wird.
Im Frühjahr zahlt Fife die Bootsbauer aus, die sich den Sommer über an Bord der selbst gebauten Yachten als Mannschaft verdingen. Fifes Bruder Allan ist mit dem Entwurf beinahe so geschickt wie der Stammhalter, außerdem ein Clyde-weit respektierter Steuermann, was natürlich dem Ansehen der Erzeugnisse aus Fairlie zugutekommt. Fifes jüngster Bruder James macht sich ebenfalls als Tischler im Betrieb nützlich, wie Alexander Fife, der derart vom Bootsbau in Beschlag genommen ist, dass er zum Heiraten keine Zeit hat. 1865 läuft mit „Fiona“ ein 80 Tonnen Rennkutter vom Stapel, der als „Fawn of Fairlie“ und schnellster Kutter seiner Zeit mit sechs Queens Cups, drei Albert Pokalen und vielen tausend Pfund ersegelter Preisgelder Regattageschichte schreibt. Seit diesem Boot muss sich Fife um den Betrieb kaum noch Gedanken machen.
Der Präzision seiner Boot ist Fife derart sicher, dass er seinen Kunden eine trockene Bilge garantiert. Er verspricht, sie würden keine Tasse Wasser darin finden. Aus den herkömmlich kruden Rümpfen mit reichlich Kalfat sind fugenlos zusammengefügte Plankengänge mit mittig in einer millimeterfeinen Falz eingelegten Baumwollfäden geworden. Fifes Familie in Croftsend House zwischen dem Pub und der Kirche wächst. Drei Töchter und der dritte William werden gegenüber der Werft in jenem Gebäude groß, das heute noch an der Bay Street steht. Mehr noch als der Vater und Großvater beschäftigt sich der Filius mit dem Yachtentwurf. Eine seine frühen Konstruktionen ist „Vagrant“ von 1884, ein prototypisches „plank on edge“ Boot der Themse Vermessung, die schmale, generös besegelte und reichlich beballastete Boote bevorzugt. Das Scottish Maritime Museum in Irvine bemüht sich derzeit um die Restaurierung des seltenen Exemplars dieses Epoche. „Wir müssen es schaffen, denn sie ist das älteste Fife Boot und ein frühes Zeugnis schottischen Yachtbaus“ meint Graham Kennison, der Trustee des Museums.
Die Werft am Strand von Fairlie wird zum Haus- und Hoflieferanten des viktorianischen Yachtsports. Die Emporkömmlinge des Empire lassen es sich mit Outdoor-Aktivitäten aller Art gut gehen. Es ist kein Zufall, dass Golf und Tennis ihre entscheidende Kultivierung im Großbritannien des 19. Jahrhunderts erfahren. Die Briten verbreiten ihr Pläsier in der ganzen Welt. 1864 wird der Fife Werftbau „Vivid“ nach Australien überführt. Gezielt bemüht sich Fife III um Kontakte in die Staaten und nach Kanada. Die Rivalität zwischen dem Yachtbau der Alten und Neuen Welt wird vorübergehend zwischen Fife und Herreshoff Erzeugnissen ausgetragen. Mit zunehmender Größe wird das Einwassern der fertigen Boote schwieriger. Die Springtide allein reicht nicht mehr. Seit Ende des 19. Jahrhunderts werden die Yachten mithilfe eines Schwimmdocks zu Wasser gelassen. Nach einem America’s Cup Debüt mit der Fife Konstruktion „Shamrock I“ lässt Lipton 1908 eine 176 Tonnen verdrängende 23 mR Yacht gleichen Namens über den Strand von Fairlie rutschen.
Für die Passage des ruppigen Nordatlantik ist der Kompositbau innen mit temporären Zugstangen versteift. Die Pläne sind bei May Fife McCallum im schottischen Irvine einzusehen. Für den Mix aus funktionalem Schiffs- und anspruchsvollem Yachtbau ist Fairlie genau die richtige Adresse. Anfang des 20. Jahrhunderts werden in Fairlie in rascher Folge 15er und 19 mR Yachten vom Stapel gelassen. Die Geschwindigkeit und Qualität des Fifeschen Bootsbaus erscheint heute rätselhaft. Noch heute berichtet Fairlie Restorations Werftleiter mit Respekt von der beim Fahrtenschoner „Altair“ vorgefundenen Qualität. „Natürlich hatten das Schiff, Albert Obrist und wir Bootsbauer Glück, dass Altair über Jahrzehnte einfach nur erhalten und gesegelt worden war. Doch dass sich das Leimlos zusammengesteckte Deckshaus einfach zerlegen ließ, wir die Hölzer reinigen und es wieder zusammenbauen konnten, das war schon doll.“
Nach dem Ersten Weltkrieg erlebt der Segelsport noch mal eine kurze Blüte. Doch hinterlassen die Weltwirtschaftskrise, die Verlagerung des wirtschaftlichen Geschehens in andere Regionen Europas und natürlich in die Neue Welt, nicht zuletzt die Konkurrenz durch nachwachsende Talente wie Johan Anker, Charles Nicholson oder Olin Stephens Spuren in Fairlie. Es wird ruhiger in der Werfthallen, am Strand und auf Fairlie Roads. Die Zeiten, in denen die Einheimischen sonntagmorgens vor dem Kirchenbesuch erst mal ein neues Fifesches Regattaboot besichtigen, und der Pfarrer mit der Messe erst später beginnen kann, sind vorbei.
Ein paar Meteryachten und Fahrtenboote wie „Latifa“ und „Eilean“ noch, der herrliche Fahrtenschoner „Altair“, dann ist mit „Solway Maid“ und dem Laurent Giles Zwölfer „Flica II“ Schluss. 1985 werden schließlich die Hallen abgerissen. Heute ist es in Fairlie beinahe so ruhig wie Anfang des 19. Jahrhunderts, als sich der erste William Fyfe, er schrieb sich noch mit Ypsilon, am Strand selbstständig machte. Die Kneipe mit dem sympathisch bescheidenen Namen „Mudhook Inn“ (Schlammhaken) wurde neulich geschlossen.