Ein Leben für Boheme II

Wir sind uns nicht sicher, ob Schiffe lebendige Lebewesen sind, gar eine Seele haben, wie oft behauptet wird. Manchmal glauben wir es, meist halten wir das für Schmonzes, für Seemannsgarn, das zu vorgerückter Stunde nach einigen Gläsern Bier oder Wein gesponnen wird. Bei Licht besehen dürfte es eine Behauptung sein, deren Erörterung unter psychologischen Gesichtspunkten interessanter ist.

Andererseits gibt es Yachten, speziell solche mit klassischen Linien, die eine sogartige Anziehung auf bestimmte Menschen ausüben. Sie leben für sie. Ihre Existenz erscheint ohne den Klassiker so wenig denkbar, wie es umgekehrt das Schiff ohne sie kaum geben würde. Ihr Schicksal ist mit jenen Planken verbunden, die ihnen die Welt bedeuten, ganz gleich wie unzumutbar arbeitsreich, wie hart und riskant ihre Existenz für die Yacht war und noch ist. Das Verhältnis der energischen Französin Etelka Fekete zum aparten dänischen Fahrtenschoner „Doriana“ ist eine solche symbiotische Beziehung, wenn auch eine, die ihren Zenit leider überschritten hat. Denn „Doriana“ liegt die meiste Zeit im Hafen, wird kaum gesegelt. Die Protagonistin dieses Artikels ist nach jahrzehntelangem Seglerleben für die Yacht bereit für einen neuen Lebensabschnitt.

Vieux Port von Cannes 2007. Hinter Casino und Kongreßzentrum, ziemlich am Ende der Jetéé Albert Edouard, liegt zwischen Motoryachten mit Achterschiffen, die der spanischen Treppe Roms nachempfunden scheinen, der 175 Tonnen Fahrtenschoner „Doriana“. Das wuchtige Gebälk von Großbaum und Gaffel ruht auf der Baumstütze. Der rasant geneigte Flaggenstock ragt über das filigrane, annähernd dreieckige Heck. Die Trossen knistern zwischen Pollern und Klüsen. Etelka Fekete, eine alterlos blonde Französin, hebt den Schwingschleifer vom Gräting und bittet über die federnde Gangway an Bord. Viel hat Frau Fekete schon in ihrem Leben gemacht. Als Jugendliche wurde sie französische Fechtmeisterin. Später schlug sie sich als Stuntfrau im fernen Kalifornien durch, doch eigentlich lebte und lebt sie noch für den hübschen Fahrtenschoner, der 1930 in der Kristian Andersen Skibsvaerft in Frederiksund im dänischen Seeland entstand und dessen Heckgräting sie gerade schleift.

Die Lebensgeschichte von Frau Fekete mit dem Schoner beginnt 1972 in Kopenhagen. Damals sucht der dänische Reeder Ivar Lauritzen aus Altersgründen einen neuen Eigner für seine „Jill“. Sie war 1930 nach Plänen von Lindholm und Ernst Wedell-Wedellsborg aus Teak über Eichenspanten entstanden. Der neue Eigner heißt George Riffe, ein gelernter Seemann und Opernliebhaber aus den Staaten. Als Eigner einer 20 Meter Ketsch, seiner ersten „Boheme“, mit Liegeplatz Villefranche hat Riffe, der in sich Deutschland vergeblich um eine Karriere als Opernsänger bemühte, Etelka Fekete kennen gelernt. Das Paar plant eine Weltumsegelung und erfüllte sich mit der Übernahme von Lauritzens Schoner den Traum, an Bord eines etwas größeren Schiffes mit Chartertörns Geld zu verdienen. „Es war unglaublich kalt, als ich wenige Wochen nach der Geburt meines Sohnes Christopher nach Kiel hinterher reiste“ berichtet Frau Fekete. „Schnee lag an Deck.“ Noch heute schlottert sie bei der Erinnerung an die Übernahme des Schiffes und die ersten Wochen an Bord, damals, Februar 1973 im Fischereihafen der Förde. Sohn Christopher Riffe, ein sympathisch introvertierter Mittdreißiger, er skippert seit einigen Jahren „Doriana“ ex. „Boheme II“, ex. „Jill“, steht lächelnd neben seiner energischen Mutter.

„Im Frühjahr überführten wir nach Ostende, wo wir ein neues Deck verlegten und Crew für die Weiterreise durch den Ärmelkanal und die Biskaya fanden. Den Sommer 74 verbrachten wir auf Ibiza. Wir segelten mit meiner Familie, die aus Nizza kam, und natürlich mit Freunden. Da ging es uns wieder gut.“ Das eigentliche Paradies entdeckt die Familie im Jahr darauf im Naturhafen von English Harbour auf Antigua. „Außer uns gab es wenige Charteryachten, eine herrliche Zeit, in der wir alle Hände mit Törns und der Pflege des Schiffes zu tun hatten. Wir waren die einzigen Weißen, die nicht auf Abstand zur einheimischen, schwarzen Bevölkerung gingen. Chris war damals unglaublich blond, er lernte und sprach ausschließlich pidgin Englisch. Er wurde auf den kleinen Antillen Tutu genannt. Wenn ich in Grenada oder auf St. Martin einkaufen ging, wurde ich Miss Tutu gerufen. Christu lebte ziemlich frei und unbefangen. Wir waren sozusagen weiße Nigger, eine von den Schwarzen akzeptierte Minderheit und Ausnahme. Die übrigen Weißen auf Antigua hielten Abstand, sie spielten Cricket und feierten ihre Parties unter sich.“ Christopher erinnert, wie er mit seinem Lieblingstier, einem Huhn auf der Schulter, über die karibischen Märkte zog. „Wir segelten mit italienischen Gästen, mit Dänen und natürlich vielen Amerikanern. Sie kamen als unsere Gäste und viele gingen als Freunde.“

Besorgt beobachtet Etelkas Vater, ein Dozent für Chemie und Physik aus dem fernen Cannes das Flower-Power Leben in der Karibik. Er erreicht nach einigen mahnenden Briefen Anfang 1981 die Rückkehr der Familie mit ihrem schwimmenden Zuhause an die Cote d’ Azur. Er meint, es sei höchste Zeit für Christophers regulären Schulbesuch und organisiert einen Liegeplatz für den Schoner. Es ist jener Platz, an dem „Doriana“ heute liegt. Vorbei ist die Zeit, als der sechsjährige Christopher in der kurzen karibischen Dämmerung im Vollgas Außenborder gefahrenen Beiboot seine fischenden Eltern sucht, weil er ihr Ausbleiben instinktsicher als Unglück interpretiert. Jetzt muss sich der Naturbursche mit den Intrigen und Machtspielchen einer halbprivaten Schule im gehobenen bürgerlichen Milieu von Cannes bewähren.

Das Geschäft mit einträglichen Charterfahrten wird auch nicht leichter und „Boheme II“ älter. Etelka und ihr Mann Charles arbeiten hart für den laufenden Betrieb des Schiffes. Aus dem kleinen Chris mit dem Kleintierzoo im steuerbordseitigen Kinderzimmer, aus „Tutu“ mit Huhn auf der Schulter auf karibischen Märkten wird ein junger Mann, der in der Schule nicht mehr als Paradiesvogel ausgegrenzt sein mag, sondern mit richtiger Schulkleidung dazu gehören möchte. Charles Riffe denkt eher an „Boheme II“ und Rücklagen für schwere Zeiten, die Mutter an die Zukunft des Kindes. Etelka löst den Konflikt mit einem harten Schnitt, einem Flug nach Los Angeles. Warum diese Stadt? „Weil es dort Sonne und Meer gibt“ erklärt Etelka. Sie hat kaum Geld für ihren Sohn und sich, was keine gute Voraussetzung für ein Leben in Kalifornien ist. Die einstige französische Fechtmeisterin besucht den örtlichen Fechtclub und hat bald einen Job als Stuntfrau im Spielbergfilm „Hook“, später spielt Etelka Fekete den zweiten Stunt in „By the sword“. Es ist die Tellerwäscherkarriere der durchsetzungsfähigen Französin, deren freiheitsliebende ungarische Eltern nach dem Krieg Budapest verließen, um ihren Kindern und sich das sozialistische Experiment zu ersparen.

„Wir lebten nicht schlecht in Redondo Beach am Pazifik. Christopher machte die Schule fertig und ich hatte meine Engagements“. In den Sommerferien kehrt der Junge zum Vater an Bord zurück. Damals ist „Boheme II“ die Sommermonate ausgebucht. „Ich schuftete wie ein Hund und half meinem Vater als Deckshand, Steward und was immer zu tun war“ erinnert Christopher. Charles Riffe erklärt seinem Sohn, das „Boheme II“ eines Tages ihm gehören werde. So entscheidet sich der Filius Anfang der Neunziger Jahre gegen den Besuch der UCLA, wo ein Studium entweder der Ozeanographie oder Philosophie und Psychologie angedacht ist. Christopher Riffe wählt den Lebensweg seines Vaters, des romantisch veranlagten Berufsseglers und Charterskippers.

„Ich machte damals drei Jobs, skipperte das Schiff, arbeitete als First Mate und Deckhand“ erinnert Christopher. Es war ziemlich hart.“ 1993 gewinnt Patrice de Colmont die Schoner „Puritan“ und „Boheme II“ zur Teilnahme am Klassiker Highlight und formidablen Saisonausklang „Nioulargue“. Damals kommt der schwedische Reeder Mikael Krafft erstmals an Bord. Mit 21 Jahren segelt Christopher sein Elternhaus dann erstmals allein, sein Vater zieht sich nach Florida zurück. Christopher schafft den Betrieb und die Pflege des 32 Meter über Deck langen, sieben Meter breiten Schoners nicht und bittet seine Mutter um Hilfe, die zögernd und ungern ihre Hollywood-Existenz aufgibt. Frau Fekete kehrt wieder zu „Boheme II“, der schönen Frön der Pflege eines betagten Holzschiffes in südlicher Sonne, zurück. Die beiden arbeiten wie die Tiger, doch ist eine umfassende Sanierung der Yacht im sechsten Jahrzehnt unausweichlich.

Mitte der neunziger Jahre bietet Mikael Krafft erstmals den Kauf des Schiffes an. Er verspricht dem seinerzeitigen Eigner Charles  Riffe „Boheme II“ für den weiteren Charterbetrieb mit Etelka Fekete und Christopher Riffe als bewährter Crew flott zu machen. Im Oktober 2000 bricht „Boheme II“ beim Aufslippen auf einer nahegelegenen Werft infolge unsachgemäßer Lagerung auf der Helling. „Es war furchtbar, einzig das Rigg sorgte dafür, dass das Schiff zusammenblieb. Der lange Kiel war gerade mal bis zur Hälfte unterbaut, obwohl Taucher ihr Okay gegeben hatten,“ erinnert Christopher. Zwei, drei Monate steht „Boheme II“ mit angebrochenem Rückgrat auf dem Slip.“ Aus dem Plan einer schrittweiten Sanierung der Yacht ist ein Totalschaden geworden. Januar 2001 steht „Boheme II“ auf einer Werft in Villefranche. Christopher entwirft ein neues, yachtartigeres Heck anstelle des abgerundeten Achterschiffs im Stil nordischer Fischkutter. Gemeinsam mit dem neuen Eigner Mikael Kraft entwickelt Chris ein neues, für den Charterbetrieb praktischeres Deckslayout mit mittschiffs offener Plicht anstelle des geschlossenen Deckshauses und kleinem Doghouse im Stil angelsächsischer Yachten achtern. Die umlaufende Schanz wird 20 Zentimeter gekürzt, was das Schiff eine Idee flachbordiger und eleganter wirken läßt. Etelka Feketa, ihr Sohn und eine internationale Bootsbaugang arbeitet sechs, meist sieben Tage die Woche, oft 12 Stunden am Tag. Sie halten zweieinhalb Jahre durch. Der Streß macht sich bei Etelka Fekete mit einer Hauterkrankung bemerkbar. „Wir fuhren morgens eine Stunde zur Arbeit, zogen durch, fuhren abends eine Stunde zurück. Es war ein Alptraum, doch das Boot wurde fertig.“ In der Nacht zum Muttertag 2003 brennt das nahezu fertige, segelklare Schiff infolge einer Verkettung unglücklicher Umstände in der La Darse Werft in Villefranche, jenem Hafen, wo die junge französische Fechterin Anfang der 70er Jahre die Bekanntschaft des musisch interessierten Seglers und Berufsseemanns Charles Riffe machte, aus. In den Morgenstunden schwelt der ausgebrannte Rumpf von „Jill“, ex. „Boheme II“. Kraft erwägt, das Schiff aufzugeben. „Wenn Du das machst, gehe ich mit unter“ erklärt Etelka Fekete.

Kraft verlädt das ausgebrannte Schiff nach Peenemünde, wo der umgebaute Schoner bei der Navcom Werft nochmals, allerdings mit weiteren Zugeständnissen wie überfurnierten Stahlmasten und einem zwar gemütlichen, allerdings eher Kreuzfahrtschiff üblichem Interieur entsteht. Den Winter 2004/05 liegt das Schiff in Stockholm. Etelka Fekete und ihr Sohn ziehen wieder durch, arbeiten den Winter über bei sprichwörtlich Kieler Temperaturen, kratzen mit klammen Fingern am Heißluftgerät und der Ziehklinge die Farbreste von den Planken unter Deck.

Jetzt steht „Doriana“ zum Verkauf. Der viel beschäftigte Star Clippers Reeder Mikael Kraft nutzt das Schiff selten. Chartertörns ergeben sich kaum. Selbst ein schöner Hafen wie Cannes ist auf Dauer das Schlimmste, was einem See gehenden Schiff und seiner Besatzung passieren kann. Eine Segelyacht muss segeln, sonst wird selbst aus einem stolzen Schoner ein unglückliches Schiff. Frau Fekete und ihr Sohn sind müde. Ein großer Schoner braucht auch im Hafen liegend mehr als eine zweiköpfige Crew. Der Lack wird unter südlicher Sonne rasch welk und die Bronze blind. Die Bezahlung der „Doriana“ Crew, so hört man in der Szene, ist eher dürftig als inspirierend. Dennoch halten die beiden „ihrem“ Schiff noch die Stange. Frau Fekete baut gerade in einer Tischlerei an der Küste einen neuen Spinnakerbaum. Wenn sie nicht an Bord arbeitet, geht sie zeitig und kommt am späten Nachmittag. Der Spirit des nach wie vor hübschen Schoners ist weg. Eigner und Chefs kennen wirksame Wege – ob bewusst oder unbewusst – ihn zu liquidieren.

„Sobald Doriana verkauft ist, gehen wir. Es ist Zeit für etwas Neues.“ Was wird das sein? „Ich weiß es nicht. Ich bin immer meinen Weg gegangen und Christopher ist jung, ihm steht die Welt offen. Wenn Du wirklich gehst, kommt etwas Neues, Positives.“ Tut es weh zu gehen? „Nein“ behauptet die Freiheit liebende Frau energisch. „Denn Doriana ist nicht mehr Boheme II. Boheme bleibt als schöne Erinnerung in meinem Herzen.“ Die Magie des charmanten dänischen Fahrtenschoners ist für Frau Fekete nach drei Jahrzehnten und dem Umbau erloschen, die symbiotische Beziehung zu Ende.

Frau Fekete schultert ihre Tasche für den Weg zur Tischlerei. „Ich möchte pünktlich sein, denn heute Abend spielt AC Mailand, das möchte ich sehen.“ Nach der Passage der federnden Gangway dreht sich die zierliche Französin noch mal um. “Wissen Sie, was das schlimmste im Leben ist? Das schlimmste ist, einen Boß zu haben, das ist schlimmer, als nicht zu wissen, wie Du nächsten Monat Deine Rechnungen bezahlst. Denn das haben wir immer hingekriegt, stimmt’s Chris?“

PS: Dies ist die halbe Geschichte. Ich habe versprochen, die ganze mit Rücksicht auf die Beteiligten vorerst nicht zu erzählen. Zur Artikelübersicht