Die ersten Bilder des Nordens

Wenn Knud Knudsen Bustetun, der alte Knudsen vom Gehöft Buste durch das westnorwegische Fjordland in die Hauptstadt Bergen zum Einkaufen fuhr, nahm er seinen Sohn mit. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Odda eine kleine Siedlung am äußersten, südlichen Ausläufer des Hardangerfjords. Rechts das tausend Meter hohe, unwegsame Hardangerfjell, links der Gletscher Folgefonn. Von den Kanten des Hochlandes schwappte die Nässe förmlich zu Tal, stoben Wasserfälle in die Tiefe. Heute sind die meisten in den Rohren der Kraftwerke verschwunden, darunter einem der ältesten Norwegens, dem Industriegeschichtlichen Baudenkmal in Tyssedal.

In Bergen half der Krämerssohn seinem Vater bei den Besorgungen und nahm Fühlung auf mit der Welt. In der Hansestadt lernte der junge Knudsen Deutsch, machte bald darauf eine Kaufmannslehre und die folgenschwere Bekanntschaft – mit der Fotografie. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts begeistertes sich Europa für die Lichtbildnerei, nachdem der Pariser Kunstmaler Louis J. M. Daguerre, 1839 respektable Ablichtungen auf seine mit Jodsilber beschichteten Kupferplatten gezaubert hatte.

Obwohl der Hardangerfjord auf 60 Grad nördlicher Breite liegt, dem Nordpol so nahe wie Anchorage, Helsinki, Petersburg oder Sibirien, gibt es im fast durchgehend taghellen Sommerhalbjahr hier ideale Bedingungen für die Landwirtschaft. Der Golfstrom schiebt das warme Wasser der Karibik quer über den Atlantik vor die norwegische Küste, drückt es in die Fjorde hinein und macht die vom Fjell bewässerten, grünen und geschützten Ufer zu einem allsommerlichen Gewächshaus.

Während über das Hochland ein eisiger Wind geht und der ewige Winter die Passage des Fjells erst ab April oder Mai ermöglicht, grünt und blüht an den sonnenbeschienenen Ufern des Fjords, was der Boden hergibt. Nur wußten die Norweger damals noch nicht, wie man das fruchtbare Land für den Obstanbau im großen Stil nutzt. Heute sind die milden Täler der norwegischen Provinz Hordaland das bedeutendste Obstanbaugebiet Norwegens. Dank der Neugier Knud Knudsens aus Odda.

„Es tut mir beinahe weh, wenn ich einen Apfel gegessen habe, und die Kerne wegschmeißen muß“, ist vom jungen Krämerssohn Knudsen überliefert. „Viel lieber stecke ich sie in die Tasche“. Schon mit 18 Jahren soll er Setzlinge aus Dänemark, Holland oder Deutschland gekauft haben. Als der Garten der Familie nicht mehr reicht, bepflanzt er die Grundstücke der Nachbarn und verkauft die Bäume später. Das fiel in einer Region, wo die Einheimischen sich eher mit dem Fischfang, Ackerbau und Viehzucht befaßten, auf. So wurde Knudsen 1862 mit einem norwegischen Stipendium nach Reutlingen geschickt. Dort hatte der eigenwillige Botaniker und Querkopf Eduard Lucas zwei Jahre zuvor seine höhere Lehranstalt für „Pomologie, Obstcultur und Gartenbau“, gegründet. Knudsen blieb vier Semester in der Internatsschule, wo mit einem strammen Pensum ab Fünf in der Frühe Sortenkunde, Baumschnitt, Morphologie und Physiologie der Pflanzen und natürlich Obstanbau gelehrt wurde. Sein Faible für die Daguerrotypie perfektionierte Knudsen nebenher weiter.

Das Bedürfnis nach der Fotografie

Wie viele Zeitgenossen in Europa sah Knudsen den Markt, der sich dem Atelierfotografen bot. Für die Ablichtung in stolzer Pose würde der Bürger sein Portemonnaie öfter und weiter öffnen. Das Portrait war bislang ein von Hand gemaltes und entsprechend teures Priveleg gewesen. Jetzt wurde es ein erschwindliches Statussymbol zur Demonstration des eigenen oder, mit dem entsprechenden Hintergrund im Atelier, auch des erträumten Status. Die Sichtweise, das Setting wurde von der Malerei übernommen.

Am 1864 eröffnete Knudsen sein Geschäft mit seiner 7 x 7,2 cm Stereoskopkamera. Die Portraitfotografie wurde das Brot- und Butter Geschäft Knudsens. Wie in einer Annonce Knudsens zur Eröffnung seines Ateliers angekündigt konnte man damals bereits stereoskopische Landschaftsaufnahmen bestellen. Bereits sein Vorgänger Sellmer hatte sogenannte „Bergen Prospekte“ angeboten, die Heimatstadt vom Berg hinab in der Totalen daguerrotypiert. Den Obstanbau betrieb Knudsen nebenher – bis er seine Naturnähe und die Begeisterung für die Möglichkeiten der Daguerrotypie zusammenführen konnte. Knudsen wurde zum berühmtesten Landschaftsfotografen Skandinaviens. Immer öfter zuckelte er mit seinem Karren, beladen mit der zerbrechlichen Fracht präparierter Glasplatten und Chemikalien, durch die Wildnis hinauf, auf’s Fjell: vor das Motiv, die seinerzeit noch verwegene, weder von Straßen noch Tunnels zugängliche und domestizierte Landschaft.

Das Fjordland Norwegens mit seiner abwechslungs- und kontrastreichen Landschaft entsprach der bürgerlichen Sehnsucht nach unberührter Wildnis. Von lieblich bis schroff sind hier alle touristischen Temperamente in jedem Tal versammelt. Knudsen trug sie mit seinen Platten heim, in die Salons und Stuben. Die Daguerrotypie konnte in Norwegen nahtlos an die Tradition der Landschaftsmalerei – etwa des Romantikers J. C. Dahl – anknüpfen und als modernes, rasch reproduzierbares Surrogat ihren Platz einnehmen.

Die Sichtweise auf die freie Wildbahn, auch der verkitschte Blick auf schroffen Fels und verwegene Schluchten war vorgegeben. Die Bilder existierten in den Köpfen – der Fotograf erfüllte als stellvertretender Reisender die visuellen Erwartungen nicht allein der daheim Gebliebenen sondern auch des wachsenden Zustroms von Urlaubern seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Der Bildhunger galt dem entfernten, schwer zugänglichen, dem exotischen Reiseziel – von dem Normalsterbliche damals nur träumen konnten. Je verwegener die Fotoreise war, desto größter der Erfolg für den Fotografen. So wurden Knudsens Streifzüge auf das Fjell zu ausgewachsenen Expeditionen – auch, wenn es bereits spektakuläre Reisen in ferne Länder gab. Der Brite Thomas Fryth hatte beispielsweise 1852 mit seinen Fotos aus Ägypten und Palästina Erfolg. John Thompson brachte mit seinen Holzkisten und Glasplatten aus dem fernen China exotische Bilderbeute mit. Drei Jahre später hatte Friedrich von Martens auf der Pariser Weltausstellung ein aus vierzehn Negativen zusammengesetztes Mont Blanc Panorama präsentiert.

Als der südliche Ausläufer des Hardangerfjords 1889 – 1919 zum regelmäßigen Ankerplatz der „Hohenzollern“ wurde, spazierte Kaiser Wilhelm II. durch Knudsens Obstplantagen und ließ sich zum Abschluß des Besuches vor der dramatischen Szenerie des Fjordlandes von Knudsen ablichten. Heute ißt halb Norwegen wilheminische veredelte Hardanger Äpfel. Nordlandfahrer Kaiser Wilhelm brachte dem Pomologen und Hoffotografen Knudsen Reiser aus den kaiserlichen Obstgärten zum Okulieren mit.

Auszug aus FAZ Magazin 715 vom 12. November 1993