Der Wald, die Reben und das Meer

Die Sonne glitzert auf dem trägen Gewoge des ligurischen Meeres. Kaum von einer thermischen Brise geschuppt, hält es noch seinen Mittagsschlaf. Links der Gleise eine Ortschaft, rechts etwas Strand. Durchgeschüttelt von einigen Stunden Bahnfahrt verlassen wir den Waggon. Monterosso al Mare. Am Meer, wo sonst könnten wir mit dem Mensch sein beginnen? Verreisen ist Wahnsinn. Nur daheimbleiben wäre schlimmer.

Ab und zu muß der Mensch mal richtig weit weg. Städte, das hügelige Zwiebelturmland und Flüsse queren, in nachtschwarzen Tunneln und dämmrigen Galerien durch Alpen und Apenninen rasen und im nördlichsten Ort der legendär hübschen Cinque Terre, der fünf entlegenen Dörfer Liguriens aussteigen.

Ein Gebirgsbach, der durch den Sand rinnt. Fischerkähne, die Sonne. Akazien, Mimosen, Pinien, eine Palme – prima. Betagtes Gemäuer, eine katholische Kirche. Monterosso al Mare. Gibt es einen geeigneteren Ort, den Mumpitz eines Alltags, den wir uns durchaus anders vorstellen können, hinter uns zu lassen? Eine Albergo findet sich. Wir haben eine wichtige Verabredung. Eine Verabredung mit uns. Wir reden nicht bloß davon, „wie schön es wäre, hier mal zwei Tage zu bleiben.“ Wir bleiben. Zwei Tage. Warten einfach ab, bis der Kopf, der notorische Nachzügler allzu schneller Auto-, Bahn- oder Flugreisen, eingetroffen ist. Die 12 Kilometer lange Via Lungomare verbindet die berühmten fünf Dörfer der Steilküste Liguriens: Monterosso, Vernazza, Corniglia, Manarola und Riomaggiore. Der italienische Alpenverein bezeichnet die Route, einen der schönsten Wanderwege der Welt, schlicht als Nummer zwei.

Zu früher Morgenstunde, wo der normal menschliche Phlegmatiker noch schlummert, folgen wir dem groben Gemäuer der Stufen durch hüft- bis schulterhohe Weinstöcke. Der Weg ist eindeutig in rot und weiß markiert. Die Hähne legen sich lärmend ins Zeug, die erste Bahn der Strecke Genua – La Spezia rauscht übers Viadukt und verschwindet lärmend im Schlund des nächsten Tunnels.

„Eine felsige, strenge Landschaft, die in ihrer Wildheit an Kalabrien erinnert, Zuflucht für Fischer und Bauern, die sich an ein Fleckchen Strand klammern – bloßgelegter und feierlicher Rahmen für eine der ursprünglichsten Gegenden in ganz Italien … wenige Dörfer oder Weiler, die sich zwischen Fels und Meer zwängen,“ faßte Eugenio Montale den Reiz der Gegend in den zwanziger Jahren zusammen. Besonders gut hat er sich mit den Eingeborenen nicht verstanden, doch sind Reisende dazu da? Außerdem sind die Ligurier stolze, dem Fremden eher skeptisch denn aufgeschlossen gegenübertretende Leute.

Heute gibt es ja überall alles. Sushi in Soho, Pesto in Pellworm oder Scholle in Schlangenbad. Einst waren Sardellen kleine Fische für kleine Leute. Denn vom Weinbau allein und dem bißchen Landwirtschaft wurden die Einheimischen kaum satt. Im Mai und Juni ißt man die Fische mit dem festen Fleisch frisch mit Ölivenöl, Zitronen und verfeinert mit Oregano, Knoblauch und Petersilie, später mariniert oder gebraten. Wie überall auf der Welt haben abgekochte Marketingstrategen aus der Notlösung für arme Schlucker einen derartigen Kult gemacht, daß man für die klitzekleinen Fische mit dem festen Fleisch und ein, zwei Fläschchen hiesigen Bianco manchen Euro opfert. Wer geneigt ist, sich darüber aufzuregen, ißt anders oder bleibt zuhause.

Bis annähernd achthundert Meter erhebt sich das Gebirge. Die unzugängliche Steilküste bot Schutz vor feindlicher Übernahme, dem barbarischen Zugriff auf Weib und Kind, dem Raub von Hab und Gut. In prekärer Hanglage lebte man isoliert, zunächst vom Weinbau, später kam der Fischfang hinzu. Ein hartes, einfaches Leben. Zwei Kulturen, zwei Welten an einem kurzen, wenige Kilometer messenden Küstenabschnitt. Heute schützt die Lage der Dörfer in engen Tälern und abschüssigen Hängen vor ganz anderer Barbarei: vor Betonierung, Zersiedlung und der automobilisierten Zerstörung des Idylls – den fast überall zu besichtigenden Folgen des Fremdenverkehrs.

Wahrscheinlich erkannten Bauern vor sieben Jahrhunderten den Wert der sonnenverwöhnten, zugleich sicheren Südwesthanglage und verwandelten mit der quadratmeterweisen Rodung von Macchia und Wäldern die Hänge in diese einzigartige Kulturlandschaft. Der Boden auf den engen Rebterrassen mußte auf Knien gepflügt werden. Die trocken, ohne Mörtel errichteten Mäuerchen verzögern den Abfluß des Wassers nach heftigen Niederschlägen und verhindern Erdrutsche. Würden die unteren Terrassen be-sonders abschüssiger Lagen vernachlässigt, kann der ge-samte darüberliegende Hang abrutschen. Deshalb darf das Natur-Kunstwerk der Cinque Terre nicht aufgegeben, müssen die sogenannten cian, die Rebterrassen weiter bewirtschaftet werden.

Die regionalen Fördergelder zur Sicherung der cian reichen nicht. Der Konsument und durstige Wanderer kann es richten, indem er für lokale Weine zahlt, was Winzer für den Cinque Terre Bianco und den typischen Sciacchetrà samt einhergehendem Landschaftsschutz brauchen. Blöd und billig geht immer, Kultur kostet. Wird auch im 21. Jahrhundert nicht anders.

Obgleich für den Sciacchetrà strenge Vorschriften gelten, mache man sich angesichts unterschiedlicher Anbaubedingungen auf Überraschungen gefaßt. Die Winzer von Monterosso, Riomaggiore, Tramonti di Bassa, Tramonti di Campiglia und Vernazza pflücken ihre Trauben in weit auseinanderliegenden, oft gerade mal zimmergroßen Anbauflächen, teils ganz unten am ligurischen Meer, teils oben am Hang in schwindelnder Höhe. Die ambitionierte Cooperativa Agricultura Cinque Terre bemüht sich um die Fortsetzung von Handwerk und Kultur des tradierten Weinanbaus. Der Saft der raffiniert rosinierten Reben ist so eigenartig wie der reizvolle Küstenstrich. Als „Wein von aromatischer und komplexer Süße ist er ein Tropfen für Kardinäle und reifere Damen“ meinte Paolo Monelli 1935 in seiner „gastronomischen Reise durch Italien“.

Zeit für eine Pause im ligurischen Vorzeigedorf Vernazza. Der abschüssige Pfad schlängelt sich oberhalb des Tunnels der ligurischen Metro durch die Rebterrassen. Unter uns die Stimmen fröhlich am Strand spielender und im Hafenbecken planschender Kinder. Im Schatten der Bäume einige Bänke, dahinter die Piazza zwischen der Kirche am Wasser, pastellfarbenen Häusern, dem Castello Belforte und dem wehrhaft runden Turm auf dem Fels. Ein Idyll – nicht mehr von dieser Welt.

Auszug aus Cinque Terre Artikel, erschienen 22. März 2003