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Haggis

Am 25. Januar versammeln sich Schotten in aller Welt, um ihr geheimnisumwittertes Nationalgericht zu verzehren. Eine kulinarische Aufklärung von Erdmann Braschos Täglich stellen Gewissens-, Glaubens- und Geschmacksfragen erhebliche Anforderungen an den modernen Menschen. Permanent soll er zu allem Möglichen eine Meinung haben. Wenn’s geht, eine eigene. Auch die Speise, um die es hier geht, polarisiert bereits bei erstmaligem Genuss. Einige Probanden behaupten unbeirrt, sie ließe sich goutieren, andere bestreiten ebendieses entschieden. Schwerlich wird der Schotte freiwillig, also zwanglos nüchtern, Auskunft über Herkunft, Konsistenz, geschweige denn Zubereitung des Haggis geben. Zum Glück gibt es noch Redaktionen, die Ergebnisse bollerharter Recherchen liefern. Was entdecken wir im Inneren eines Haggis, selbstredend pikant gewürzt? Innereien des Lamms, zusammen mit Hafermehl und Zwiebeln in einem Schafsmagen gekocht. „Various“ lautet die beunruhigend stereotype Erklärung zur Konsistenz seitens weiß bemützter Haggis-Spezialisten. Dazu werden tatties (gestampfte Kartoffeln) gereicht und neeps, weiße Rüben. Die Angelegenheit kommt unbedingt am 25. Januar, dem Geburtstag des schottischen Nationaldichters Robert Burns (1759 bis 1796) auf den Tisch. Im Verlauf eines Abendessens beschloss dieser Burns nämlich das Mahl zum Gegenstand seiner „Adress to a Haggis“, 1786 im Caledonian Mercury veröffentlicht, zu machen. Er widmet dem great chieftain o‘ the puddin race, dem Großmeister aller Wurstarten, volle acht Strophen. So versammelt sich am 25. Januar überall auf dem Erdenrund wer ein echter Schotte ist mit seinesgleichen. Der Eingeborene kleidet sich angemessen ethnisch, lässt auftischen und isst die Sache in der Regel samt tatties und neeps. Er trinkt. Er greift zum Dudelsack. Er singt. Der Abend wird besser. Auszug aus Artikel in der Zeit

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Der erfolgreiche Verlierer

Der prototypische America’s Cup Segler ist Entrepreneur, der seinen geschäftlichen Erfolg auf den Regattabahnen wiederholt und das gesellschaftliche Parkett des Yachtsports genießt. Seit Generationen Arrivierte verausgaben sich selten, Royals nie für den Cup. Im Rahmen der sommerlichen Segelfestspiele auf dem Solent stellt Osbourne House gern den schwarzen Rennkutter „Britannia“ als Sparringspartner. Der Wettkampf mit den Gatsbys jenseits des Atlantik bleibt bürgerlichen Emporkömmlingen überlassen, einem Selfmademan wie dem 1850 in die bescheidenen Verhältnisse einer Krämerfamilie geborenen Thomas Johnstone Lipton. Mit acht Dollar in der Tasche versucht sich der 15-jährige im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Nach einigen Jahren kehrt er mit einem Schaukelstuhl für die Mutter, 500 Dollar, Erfahrung als Tabakpflücker, Feuerwehrmann, Kutscher, schließlich Buchhalter eines New Yorker Lebensmittelgeschäfts zurück. Lipton hat verstanden: „Die Ware, die in den Staaten angeboten wird, ist nicht besser oder schlechter als in Irland oder Schottland. Sie wird bloß besser präsentiert und die Mitarbeiter sind der Kundschaft zugewandt.“ Wie das väterliche Lebensmittelgeschäft läuft, weiß er schon. Wie es besser geht, probiert Lipton an seinem 21. Geburtstag mit der Öffnung seines eigenen Ladens. Er bietet Butter, Eier, Schinken oder Speck – und Sinn für Publicity. Lipton läßt eine Sau durch Glasgow jagen. Sie wirbt aufmerksamkeitsstark für „den besten Laden für irischen Schinken.“ Weil das nur einmal geht, unterhält der gewitzte Krämer seine Kundschaft jeden Montag mit einem neuen Cartoon vor seinem Geschäft. Liptons Lebensmittelladen bietet mit Zerrspiegeln die Attraktion eines Jahrmarkts. Beim Kommen erscheint der Kunde dünn, nach dem Einkauf dick. Auszug aus der Handelsblatt-Beilage Sailaffairs

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Kapitän Größenwahn

„Als Kapitän John Edward Smith in seiner Eigenschaft als Kommodore der White Star Line den Platz auf der Brücke des neuen Flaggschiffs Titanic einnahm, stand er kurz vor seiner Pensionierung. Die Jungfernfahrt des größten und komfortabelsten Ozeandampfers der Welt war für den 63-jährigen als gediegener Ausstand aus dem Berufsleben gedacht. Die finanziell angeschlagene White Star Line wollte mit dem elfstöckigen, mehr als als einen Viertel Kilometer langen Ozeanriesen ein neues Kapitel im profitablen Nordatlantikdienst aufschlagen. Es sollte viereinhalb Tage dauern. Wie es sich für einen richtigen Kapitän gehört, präsentierte sich der Alte vor dem Ablegen in Southampton im April 1912 dem Fotografen standesgemäß in vollem Wichs und großer Dienstmütze. Vier goldene Ringe am Ärmel und edles Metall auf der Brust verrieten: Der Maître d’Honneur stand in der maritimen Hierarchie ganz oben. Die Transport Medal, Reserve Decoration und den Rang eines Commanders der Royal Navy Reserve hatte Smith vom Burenkrieg mitgebracht, wo er Truppentransporter befehligt hatte. Ein Bilderbuchkapitän, den Blick kühn in die schwer bestimmbare Weite des Horizonts gerichtet, die Arme gravitätisch wie ein Herrscher verschränkt. Der Seebär mit dem sauber getrimmten Vollbart hatte zwei Millionen Seemeilen, ein Viertel Jahrhundert Erfahrung auf der Kommandobrücke hinter sich und brachte 1.250 Pfund Sterling mit nach Hause. Dieses Jahreseinkommen entspräche heute 197.000 Mark. Smith war der bestbezahlte Seemann der Welt. Der monatliche Sold seiner Funker lang bei 3,18 Pfund, etwa 500 Mark heutigen Geldwertes. Die Kundschaft aus der Ersten Klasse verpulverte solche Summen aus der Portokasse: Ein Kurztelegamm von zehn Worten, an die Lieben daheim oder als Anweisung an die Firma von hoher See gemorst, wurde vom Marconi-Telegrafenbüro mit hundert Mark abgerechnet. Für ein havariefreies Jahr bot die White Star Line ihrem Flottenchef eine Sonderzahlung von 200 £ (31.500 Mark). Smith kann die Tantieme selten bekommen haben, denn er fuhr gern schnell und hatte eine Schwäche für haarsträubend zackige Manöver. Auftakt zur fünfteiligen Titanic-Serie – Heft 1/98. Mit einer Auflage von 2,5 Millionen die erfolgreichste Serie der HörZu.