Besuch bei Maria und Henrik

Es ist für Mitteleuropäer nicht immer nachvollziehbar, was der Schwede eigentlich den ganzen Tag so macht. Beim Deutschen ist die Sache ja klar: Er arbeitet, klagt und fährt im Sommer, wenn es da unten nur heiß, fettig und frech teuer ist, zur Badeanstalt des Mittelmeeres. Aber der Schwede? Man erfährt da wenig, was an seinem wortkargen Wesen liegt.

Glaubt man der Reklame eines bekannten schwedischen Möbelhauses, gehen irgendwann im neuen Jahr ziemlich synchron die Fenster auf und die Weihnachtsbäume fliegen raus. Dann hört und sieht man wieder lange nichts. Wer mal unter einem Vorwand privater oder geschäftlicher Natur einen Schweden sprechen möchte, bekommt die Störung des häuslichen oder beruflichen Friedens bei der Entgegennahme des Telefonats mit einer Art indigniertem Schweigen zu spüren, als hätte man aus nichtigem Grund an einem Sonntagmorgen halb acht angerufen.

„Jo – ho“ heißt es dann, wobei zwischen dem „Jo“ und dem „ho“ eine Pause liegt, in der bis vor kurzem zwei unterschiedlich profitable Firmen in eine große, wirklich unprofitable zusammengelegt wurden. Also, eine Flatrate lohnt bereits beim ersten Telefonat nach Schweden. Natürlich hegt der Schwede gegenüber dem Mitteleuropäer jene unüberwindbare Scheu und Skepsis, wie sie der Deutsche einem levantinischen Teppichhändler entgegen bringt, welcher bekanntlich solange textet und Tee einschenkt, bis die Brücke angezahlt ist. Man braucht bloß in Antalya Urlaub machen, um zu spüren, wie sich das anfühlt.

Nur ist der Schwede dermaßen introvertiert, dass er auch mit Landsleuten bloß kommuniziert, wenn es unbedingt sein muss. Die Anlässe sind in dem großen waldreichen Land mit verhältnismäßig einsiedlerisch anzutreffenden Einwohnern selten. Wir erinnern bei dieser Gelegenheit den von etwas gesprächigeren Dänen und gemeinen Norwegern erzählten Witz über zwei schwedische Angler auf einer einsamen Schäre. Nach dem Austausch jeweils eines sparsam hervorgebrachten „hey“ hocken sie stundenlang neben ihrer Angel, bis sich der eine zaghaft erkundigt „hast Du schon was gefangen?“ Da empört sich sein Landmann: „Wir sind doch nicht zum quatschen hier.“ Tja, so unterhaltsam können Dänen oder Norweger zu vorgerückter Stunde nach dem Genuss trinkbaren Bieres nach unserem Reinheitsgebot sein und so ungefähr ist der Schwede.

Leider sind wir dem Mysterium, was der Schwede so den lieben langen Tag eigentlich macht, keine Idee näher gekommen. Also sind wir neulich mal nach Stockholm geflogen und von Arlanda über kleine gewundene Straßen und Sträßchen, über Schotterpisten und Waldwege in den Stockholmer Schärengarten zu Maria und Henrik in der Nähe von Åkersberga gekurvt. In Skandinavien duzt man sich pauschal und präventiv, auch wenn man bloß ein bisschen herum gemailt und sich noch nie gesehen hat. Anrufen wollten wir aus bereits dargelegten Gründen nicht. Maria Torsell und ihr Mann Henrik Widstrand haben zwei Kinder, ein paar Tiere und bewohnen ein Haus am Wasser. Wahrscheinlich das prototypisch schwedische Familienglück. Natürlich unternahmen wir die Recherche verdeckt, unter dem glaubhaften Vorwand, wir würden uns bloß für die Boote von Maria und Henrik interessieren. Es sind sehr schöne, herrliche Boote, alte Holzboote mitten aus dem Stockholmer Schärengarten, solche zum schwach werden.

Der Wahrheit und Dokumentation halber, mit Fotos lässt sich zwar auch lügen, aber schwerer, wurde die Recherche von einem Fotografen begleitet. Zwecks Akklimatisation war Ulf schon einige Tage mit seinem aufgemotzten Mini Cooper in Schweden unterwegs, was leider kaum auf seinen Tourenwagenmeisterschaftsfahrstil abgefärbt hatte. Kein Anflug dieser senilen Apathie der gemächlich nordischen Straßenverkehrsteilnahme war zu spüren, die sich soeben noch vom Parken unterscheidet. Ulf fuhr schnell, blieb dabei aber mit sämtlichen Rädern auf der Piste, all das immerhin mit eingeschaltetem Licht. Plötzlich meinte das Navigationsgerät, wir wären da.

Ratlos standen wir in der Lichtung eines Kiefernwaldes und atmeten tief durch. Zum Wasser hin ein Holzhaus. Die im Garten gehisste Fahne in Landesfarben signalisierte Bewohntsein. Hätte eine Schar blondschöpfiger Kinder mit dem faul in der Wiese lümmelnden Hund gespielt, es wäre wie in der Reklame für diese Mitnehm- und Daheim selber Zusammenbaumöbel gewesen, die wie „Billy“ oder „Björn“ auch alle zwangsgedutzt werden.

Der Mini Cooper kühlte knisternd ab, Vögel zwitscherten, doch niemand erlöste uns von der Ungewissheit, ob wir hier richtig, bei Maria und Henrik waren. Anrufen? Um Himmels willen! Wir guckten noch mal aufs Display des Satelliten gestützten Pfadfinders. Tatsächlich, am Kardinalvägen 14 steckte diese Rallyfahne am Ziel.

Die Tür zum Holzhaus war offen. Wir klopften. Keine Antwort. Wir klopften noch mal und fragten „Maria?“ „Hey“ rief es irgendwo drinnen. Wir warteten. Keine Maria, kein Henrik. Nur der Hund war herangetrottet und schnüffelte interessiert an unseren Waden. Entgegen allem mitteleuropäischen Benimm gingen wir einfach rein, querten zögernd die Diele und standen im Wohnzimmer. „Hey“ rief eine junge blonde Frau aus der Küche nebenan. Geschirr klapperte. „Maria?“ „Yess, I am Maria, coffee?“ Na, geht doch.

Natürlich machten wir nicht den Anfängerfehler, jetzt einfach wie der Teppichhändler in Antalya loszuquatschen. Es war die Stunde des zweiten Frühstücks und als Projektleiterin für Handysoftware hatte Maria zwar frei, aber etwas Homeoffice für unaufschiebbare Dinge. Der Laptop summte, das Handy klingelte, mit „hey“ und „jo – ho“ wurde das nötigste besprochen. Schweigend saßen wir am Tisch, mampften etwas von dieser watteartig unzerkäulichen Konsistenz, die der Schwede als „bröd“ bezeichnet. Ulf hantierte mit seinen Kameras und kriegte Ungeduldspickel. Wir blieben cool, guckten in den Garten und runter aufs Wasser, wo Marias und Henriks herrliche Holzboote schwammen. Wir beneideten den abwesenden Gatten ein wenig. Eine so sympathische Frau, das Grundstück und – ach – die Boote erst. Wir zwangen uns so gut wie nichts zu sagen und versanken ein wenig in dieser generell skandinavischen Apathie, was in diesem Paradies ganz gut klappte.

Es gab noch mal Kaffee und bei zögernd tastenden Fragen warteten wir ab, was der Schwede eigentlich so den ganzen Tag macht. Nach einer Weile rief Henrik von der Arbeit an und erkundigte sich, ob die „tyska“ da wären, mit Sicherheit auch, ob die Deutschen okay und zum aushalten seien und ob Maria nicht zu viel reden müsse. Nach einer Weile erfuhren wir, wie Maria 1990 als Studentin zehn Tausend Schwedenkronen in „Lilla Spjut“, einen kleinen 15 Quadratmeter Schärenkreuzer von Anno 1920 steckte, statt das Geld bei einem Sommerurlaub mit einer Freundin an der Badeanstalt des Mittelmeeres zu verbraten und die aufdringlichen Südländer abzuwehren, die bei blonden Schwedinnen so beharrlich zu landen versuchen, wie nordische Mücken bei Menschen und Tieren nach einem Regenschauer im August.

„Lilla Spjut“ war günstig. Auch bot sie einen abwechslungsreichen Segelsommer. Doch so reell, wie das Gefährt war, so viel gab es auch daran zu tun. Die Ratschläge zur Renovierung kamen von Marias heutigem Mann Henrik, der als gelernter Tischler und tief in der Materie steckender Bootsbastler mit skandinavischer Zurückhaltung und Seriosität, dennoch nicht ungern bei Marias Bootsbaustelle erschien, teils aus Interesse am aparten Schiffchen, zunehmend wohl auch an der Besitzerin des Bootes selbst. Dann wechselten Maria und Henrik zusammen Planken. Während eines elftägigen Segelurlaubs auf dem Mälarsee fügte sich weiteres, wurde aus dem still genossenen Glück der Wunsch nach Familie. „Das Boot ist zehn Meter lang und mit 1,45 recht schmal. Man muss sich mögen, um damit einen Segelurlaub zu machen. Es war herrlich, wir sind zu sämtlichen Schlösser am Mälarsee gesegelt.“ Maria lächelt ihr einnehmendes Schwedinnenlächeln und guckt eine Weile aus dem Fenster.

Dann steht Henrik im Wohnzimmer. Es ist Nachmittag und die Zeit vergangen wie im Flug. Ein knappes „hey“. Skeptisch flinke Blicke scannen die sichtbaren Ergebnisse der ganz und gar unschwedischen Gesprächigkeit, die Kaffeebecher, Teller, Krümel, aufgeschlagenen Bücher, Fotoalben und Notizen, als ahne der Gatte die verdeckte Recherche. Jetzt bloß nichts sagen, fragen oder erklären wollen. Ulf hantiert immer noch oder schon wieder mit Bodies und Objektiven.

Zwecks Entspannung die Lage gehen wir durch die nasse Wiese den Hang zum Wasser hinab. Die weiße „Lilla Spjut“ schwebt mit ihrem filigranen Peitschenmast wie eine Gondel über dem spiegelnden Resaröström. Wir erinnern Marias Erklärung der zehn Meter Regel, wonach es völlig langt, wenn ein altes Holzboot aus etwa diesem Abstand makellos aussieht. Alles andere wäre pedantisch und ruinös hinsichtlich der vielfältigen Anforderungen, die das Berufs- und Landleben sonst noch so stellt, wahrscheinlich „tysk“ oder – noch schlimmer, schweizerisch – was Maria höflichkeitshalber so nicht gesagt, aber vermutlich gemeint hat.

Henriks Schärenkreuzer entstand für die olympischen Segelregatten von 1912 und ist als frühes Exemplar mit zwölf mal 2,50 Metern vergleichsweise breit und flach. Wie ein Stumpf ragt der kurze kräftige Mast der Gaffel getakelten Antiquität über das braun glänzende Gefährt. Er kaufte es vor 23 Jahren gemeinsam mit einem Freund, hegt und pflegt, segelt und behält „Miranda“ einfach.

Nach einem Probeschlag mit „Lilla Spjut“ ist noch etwas Zeit bis zum Abendessen. Er hätte „da noch ein Boot, vielleicht ganz interessant,“ meint Henrik, der jetzt beinahe gesprächig geworden ist. „Ein paar Minuten zu Fuß, nicht weit.“ Okay, gehen wir mal gucken. Es ist ja lang hell im sommerlichen Schweden, trotz der Mücken, die bei uns jetzt in den Abendstunden wirklich zu landen versuchen, wie Italiener bei prototypisch blonden Schwedinnen.

Nach einer Weile queren wir einen sommerlich leeren Bootslagerplatz und gehen auf eine schmale lange Bretterbude zu. Die Behausung ist mit gebrauchter Lastwagenplane und verspakter Dachpappe abgedeckt. Eine improvisierte Kegelbahn oder ein Schießstand gar für seltsame Vögel, die es in Schweden ja auch geben soll? Sprach Henrik nicht von einem Boot? „Yesss“ meint Maria. Henrik schließt den Schuppen auf und knipst das Licht an. Mit zögerndem Flackern, nacheinander blinkend beleuchten die Neonröhren ein Gefährt, das wie die sichtbare Hälfte eines aufgetauchten U-Boots in den Schuppen ragt. Wir vergessen die Mücken und ringen um Fassung. „Was ist das denn?“ „Marga“ meint Henrik und präzisiert „Marga IV.“ Das knapp 20 Meter lange, ganze 2,70 m breite Geschoß ist einer der längsten 95 Quadratmeter Schärenkreuzer. Eine federleichte, damals wie heute kostspielig große Rennklasse, in der seinerzeit wenige Boote entstanden und von der es heute noch eine Hand voll gibt. Es entstand 1921 nach einem Entwurf von Tore Holm für Konsul Fredrik Forsberg, einen vermögenden Segelconnaisseur, dessen Haus mitten in Göteborg neulich für einen sensationellen Preis den Besitzer wechselte. Dort, wo U-Boote üblicherweise ihr Sehrohr ausfahren, muss man sich den Bleikiel dazu denken. Damals entwickelten sich die Schärenkreuzer rasant. Die Boote wurden von Saison zu Saison länger, leichter und schneller. Die Bauvorschriften waren wiederholt zu präzisieren und der vermögende Konsul zog mit. Mit „Marga III“ Baujahr 1918 hatte Forsberg nach etwas älteren Baubestimmungen damals ein zweites Boot in Saltsjöbaden, dem Seglervorort von Göteborg. „Ein praktischer Mann“ meint Henrik. „So hatte er an der West- und Ostküste jeweils ein Regattaboot liegen.“

Nach etwa einem Dutzend verschiedener Besitzer im 20. Jahrhundert und zunächst schleichendem, dann unübersehbarem Verfall kaufte Widstrand es 1997 mit dem Ziel, das Torpedo 2001 segelfertig restauriert zu haben. Dieser Plan ist längst aufgegeben und Fragen nach dem erneuten Stapellauf beantwortet Henrik ausweichend mit: „Wenn ich fertig bin.“

Es gibt ja noch den Beruf als Möbeltischler, Maria, die Kinder, die unten vor dem Bootshaus vertäuten Antiquitäten, das Holzhaus, den Hund. Einfach mal faul sein oder ein Buch lesen wäre auch ganz schön. Manche Planke hat Henrik das vergangene Jahrzehnt schon gewechselt. Jeder, der mal eine Tapete unter einer Zimmerdecke angebracht hat, erinnert, wie blöd über Kopf Arbeit ist. Weil Planken wechseln an einem Holzboot etwas mühsamer ist, hat Henrik „Marga“ gedreht und mit dem Deck auf Böcken abgelegt.

Am gekrümmten Übergang vom Rumpf zum Kiel, dort, wo beim U-Boot der Turm beginnt, sind noch ein paar offene Rechtecke. „Es ist nicht einfach da. Manchmal musst Du eine ganze Planke noch mal machen, bis sie überall stramm im Schiff sitzt.“ Eine professionelle Bootsbauergang würde die Lücken in einer oder zwei Wochen schließen. Henrik hat sich angesichts der Zeit und Geld Schere für die Zeit, seine Arbeitszeit entschieden. Er denkt in Vierteljahresschritten.

So geht er jahraus, jahrein zwei mal abends nach der eigentlichen Arbeit und dem Abendessen mit der Familie und einen Tag am Wochenende zu „Marga IV“. Im Sommer über den kollernden Schotter, im Winter durch den schnurpsenden Schnee und sonst durch den Regen. Das den Bootskörper quer aussteifende Gerippe der Spanten, die Bleche der Bodenwrangen für die Kielaufhängung sind repariert oder durch neues Material ersetzt. Ja, hat er denn nach der handwerklichen Arbeit tagsüber dann am Abend nicht mal den Hals voll? Über eine derart blöde Fragte staunt Henrik: „Die Regale, die ich tagsüber in irgendwelche Häuser tischlere, das mache ich für andere, die Arbeit an Marga mache ich für mich.“ Außerdem sei es ein schöner Ausgleich zum Alltag. Er könne dabei am besten nachdenken.

Ulf, jetzt bitte mal ein Foto, sonst glaubt das keiner. Henrik kriecht zwischen dem Hallenboden und dem Deck zu einer Luke. Nach etwas levantinischer Animation von Ulf, der jetzt endlich mit seinen Bodies, Bajonettverschlüssen und Objektiven zum Zuge kommt, huscht ein Grinsen durch das ernste Gesicht des 42-jährigen. Und noch eins mit Weitwinkel oder Fischauge mit Maria und dem Kirchenschiff der Spanten ringsum. Da ist Henrik wieder ernst. Dann laufen wir über das mit Pappe ausgelegte Kajütdach nach achtern, winden uns durch die Einstiegsluke in den Deckausschnitt, der mal das Cockpit mit den Sitzgelegenheiten aufnehmen wird und folgen dem endlos langen, zu einem handtaschengroßen Heckspiegel verjüngten Achterschiff, wo eine Halterung für die Landesflagge auf den Rumpf geschraubt ist. Da bringt Widstrand dann an nationalen Feiertagen die Schwedenfahne an. Es sieht so aus, dass Widstrand sie noch oft setzen wird. Eigentlich ganz nette Leute, solche Schweden. Und wenn es unbedingt sein muss, erzählen sie sogar was.

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