Das Ratzeburger A. Paul Weber Haus
Eine Insel zwischen Ratzeburger-, Küchen- und Domsee. Stiller Böterwinkel mit Reusen, Netzen, Fischerkähnen zwischen hoch bewaldeten Lauenburgischen Ufern. Staatlich anerkannter Luftkurort. Heimat des Ruderprofessors Karl Adam, wie könnten wir die gewissenhaft vorbereitete Heldentat des Goldachters 1960 in Tokio vergessen?
„Besonderer Pflege erfreuen sich die die Stadt umgebenden ausgedehnten Waldspaziergänge mit ihren zahlreichen Aussichtspunkten und erquickenden Ruheplätzen. Fünf Ärzte. Für Unterkunft ist gesorgt“ heißt es 1907 in einem illustrierten Bäderführer. Der Deutsche macht gern Waldspaziergänge.
Schön baden lässt sich hier, durchs Schilf blinzeln, eine Bootspartie wagen, oder im Café unter Vor- und echten Ruheständlern ein Streuselkuchen essen. Welliges Pflaster, roter Backstein. Geduckte Katen erinnern unter dem großen, oben grünspanigen Dom daran, dass der Mensch einst kleiner und genügsamer war. Man isst Italienisch oder Griechisch. Ratzeburg, irgendwie immer noch grenznah am rechten Rand der früheren Bundesrepublik
Das A. Paul Weber Haus
Auf der Höhe der Insel zwischen Ortsmitte und Dom das vorn ockerfarben verputzte Fachwerk eines Herrenhauses. Walmdach, großer Garten, weiter Blick ins Herzogtum. Dünnes Gatter, schwere Tür. Drei Etagen, federnde Dielen, gedämpftes Licht. Fünftausend Zeichnungen, Lithographien, Ölbilder, Buch- und Kalenderillustrationen sind hier zu sehen. Andreas Paul Weber (1893 – 1980), kritischer Grafiker. Noch gar nicht lange her, dass so was mal cool war.
Gebrauchsgrafiker für Kopfwaschpulver
Ein vielfach begabt durchs 20. Jahrhundert irrender Wandervogel, Gebrauchsgrafiker, Waldschrat, kriegsfreiwilliger Feldeisenbahner und Armeezeichner, beinahe mit einer Kunstprofessur von den Braunen zum Mitmachen geködert. Prophetischer Hitlerfeind und Überlebenskünstler in der Tausendjährigen Hölle, Wehrkraftzersetzer und Gesinnungsjongleur.
Spezialist fürs gefrierende Lächeln, Karikaturist der besinnungslos überfressenen Wirtschaftswunderrepublik, Lithograph possierlicher Tiergeschichtchen und Clan Presse Handwerker des Kritischen Kalenders der 60er und 70er Jahre. Bilder, die in der Legislaturperiode der Schönsprecher und weich zeichnenden Reform-Anmoderatoren wecken können. Schülern des Lebens empfohlen, besonders den Jungen, im sogenannten Klassenverband auftretend, soweit der zwischenzeitlich nicht umbenannt oder schon abgeschafft ist. Also, mal für sechzig Minuten das Handy weglassen, die Klingeltöne abgeschaltet und hingeguckt. Dann wird das Stündchen im Ratzeburger Herrenhaus zum Auftakt einer jahrzehntelangen Guck- und Denkfreundschaft, die sich alle paar Sommer auffrischen lässt, nicht zuletzt wegen des hübschen Gewässers mit Gelegenheit zur Bootspartie, Waldspaziergang und Streuselkuchen.
1930 wird der frühere Gebrauchsgrafiker für Kosmodont Zahnpasta, Söhnlein Rheingold oder Kopfwaschpulver Hersteller, Illustrator und Mitherausgeber von Ernst Niekischs Zeitschrift „Widerstand“. Der Niekisch Titel „Hitler, ein deutsches Verhängnis“ zeigt den „Führer“ als personifizierten Tod in SA Uniform, Anno 32 als lächerlichen, noch vor Hindenburg stramm stehenden Emporkömmling. 33 zeichnet Weber unzählige, aus einem Sumpf oder Friedhof zum zeitgenössischen Gruß erhobene Arme.
Man kann die quälenden Tagebücher Victor Klemperers lesen, die Demontage zivilen Lebens auch in Inge und Walter Jens’ „Frau Thomas Mann“ nachvollziehen oder sich diese furchtbaren, klarsichtigen Prognosen anschauen. Zweihundert Wachrüttler zeichnet Weber für „Widerstand“ und „Entscheidung“, bis die Zeitschriften ‘33 verboten werden. Zeichnend übersteht er ’37 die mehrmonatige Gestapo-Haft in Hamburg Fuhlsbüttel, Berlin und Nürnberg. Volksnah ist er, völkisch weniger. Der Instinktmensch Weber redet sich heraus und wird schließlich mit einer stattlichen Kaution von 18.000 Reichsmark freigekauft.
Oft hält er den Pinsel in Limonade. Immer ätzen geht nicht. Diese Doppelbegabung hilft ihm auch in den 60er und 70er Jahren. Kitschig-süßliche Lithographien umschlungener Hamsterpärchen im Feld, mit den Bibern Otti und Ottchen im Kahn, das herzige Gartenidyll einer Igelfamilie – solche Miniaturen wärmen Sonn- und Feiertags zur Waldspaziergangszeit die von eigener Kälte geschundene deutsche Seele. Mit „Ellenstoßbrigade“ oder „Sie fressen alles“ kommt er ihr auf die Spur.
Ein Weberdruck wird zum Dielen- oder Esszimmerinventar. Etwas Kritisches für die Raufasertapete. Raffiniert bringt „Erlöse uns von dem Übel“ mit der Darstellung einer öffentlichen Raketen-Guillotinierung mitten in einer jubelnden Menschenmenge die Sehnsucht nach Frieden auf den Punkt. 1959 der erste Kritische Kalender, zunächst zum Abreißen, bald und bis 1981 als beliebtes Buch. Anfang der Sechziger entwirft Weber auf Günther Anders’ Anregung eine Postkarte für die Wiener Ostermärsche zur Ächtung von Atomwaffen, ’68 illustriert er Anders‘ Fabelbuch „Der Blick vom Turm“. Ende der Siebziger dann die großen Wanderausstellungen, wo ich Webers Limonaden- und Ätzkunst das erste Mal als Schüler begegnete. Immer wieder „kauzig-schnurrige“ Tierbilder. „Die letzten Gäste“ zeigt eine am Tresen lehnende, schlummernde dicke Kuh, während Fuchs und Rabe zwischen Weingläsern in eine Schachpartie vertieft kein Ende finden. Das Schicksal des Wirts. Wieder ein augenzwinkernd-charmanter Umweg durchs Tierreich zum Betrachter.
Die Sonne schickt Schatten des Laubs auf die geschlossenen Vorhänge des Herrenhauses. Die Dielen knarren, der Besucher wird dösig wie die schlummernde Kuh. Zeit, dem Bilderdenker Adieu zu sagen, bis zum nächsten Mal.
Einige Gedanken noch an den Rastlosen zwischen Idyll und Apokalypse, klitzekleinem und riesengroßem Glück in der gesichtslos entmenschten Masse. Den kauzigen Steindrucker, der selbst seinem großen Förderer Toepfer noch Augen zwinkernd Spott in die Platte ritzte.
Ein Besuch des A. Paul Weber Hauses 2004